Kolumnen – „Boomtown“ und „Cogito“

Hervorgehoben

Ende 1999 begann ich, regelmäßig im Forum des „Berliner Zimmer“ Kolumnen zu veröffentlichen. Heute würde man das vermutlich „Blog“ nennen, denn die meist wöchentlich erscheinenden Beiträge behandelten jeweils irgend ein Thema, das mir gerade durch den Kopf ging. Mal ganz banal regional, manchmal das Große Ganze betreffend, naturwissenschaftliche Themen wechselten mit Tratsch und philosophisch Angehauchtem. Der Name der Reihe war „Boomtown“, was eine etwas verdrehte Begründung hat, die sich zu Beginn fast jeder Kolumne findet: Ende der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts veröffentlichten die „Boomtown Rats“ den Titel „I don’t like Mondays“. Er handelt von einer Schülerin in San Diego, die am 29.1.1979 ihre Klassenkameraden erschoss und dies einzig mit jenem Satz begründete.Um anderen Menschen ein ähnliches Schicksal zu ersparen, erschien diese Kolumne montags in der Hoffnung auf zahlreiche Leser.

Einige Monate später bat mich der freundliche Tim Rohrer, für die Titelseite seiner „Leselupe“ ebenfalls in regelmäßigen Abständen eine Kolumne zu fertigen, was ich bis zum Oktober 2000 tat. Diese Kolumne trug den Titel „Cogito“, was soviel bedeutet wie „eine Sache im Geist zusammenfassen“.

Später fanden sich die Kolumnen außerdem im „Glossen-Magazin“, einer Webseite von Katja Zymara, sowie auf meiner eigenen Webseite, die ich 1999 eröffnete.

Leider existieren heute sowohl das Glossen-Magazin als auch das Forum des Berliner Zimmer nicht mehr. Einige Themen aber sind nach wie vor aktuell, weshalb man eine Auswahl der Texte hier findet.

http://www.leovinus.de/wordpress/?cat=9

Frischs Fragen

buchBoomtown 03/2002

Vom 4.Februar 2002

Frischs Fragen

Auf dem „Schreibtisch“ meines Computers liegt ein Programm mit Namen „Eightball“. Sein Icon sieht aus wie die Billardkugel „Acht“ und seine simple Funktion besteht darin, Antworten auf all meine Fragen zu geben. Ich muss lediglich darauf klicken und erhalte sinnreiche Auskünfte wie „Ganz sicher.“ oder „Das würde ich nicht wagen.“ oder „Frag Sybille.“

Ist man nicht im Besitz eines Computers, kann der gleiche Dienst durch ein Buch erfüllt werden, in dem mehr oder weniger intelligente Aussagen versammelt sind. Wieder anders veranlagte Menschen begeben sich aus diesem Anlasse zu einem Werktätigen der astrologischen oder sonstig esoterischen Industrie.

Da es mir in dieser Woche – wieder einmal – an einem hinreichend erquicklichen Kolumnen-Thema mangelte und weder Eightball noch ein Buch weiterzuhelfen in der Lage waren, kam es meiner Muse in den Sinn, mir einen Klassiker auf den Schreibtisch flattern zu lassen, der keinerlei Antworten, sondern „nur“ Fragen beinhaltet. Die Alt- und Neu-Achtundsechziger unter uns wissen, welches Buch dies ist: Max Frischs „Fragebogen“. Darin habe ich willkürlich eine Seite aufgeschlagen und eine beliebige Frage ausgewählt. Es traf zufälligerweise die erste Seite mit Frage Eins. (Manchmal kann man’s eben nicht beeinflussen.) „Sind Sie sicher, dass Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert?“ Antwort: „Nein.“

Nächste Frage: „Warum? Stichworte genügen.“

Es ist mir natürlich schwer vorstellbar, dass mich überhaupt irgendetwas interessiert, wenn ich nicht mehr bin. Möglicherweise wird mein Astralleib noch das eine oder andere Interesse haben, aber welcher physikalische Teil von mir sollte die Aufgabe des Interessiertseins übernehmen?

In Ordnung, jetzt mal ernsthaft, wahrscheinlich hat Onkel Max es ja anders gemeint: Aber eine so tolle Vorstellung, dass sich da weiterhin wildfremde Menschen ernähren, begehren und vermehren, also so umwerfend finde ich das nicht. Oftmals erscheint mir die Erde just dort ein ganz nettes Plätzchen, wo sich keine anderen Leute aufhalten.

Im Übrigen ist damit zu rechnen, dass ich bereits kürzeste Zeit nach meinem Ableben eher zur Erde gerechnet werden kann als zu den Menschen. Darum wird mir dann wohl mehr die Erde an meinem lehmigen Herzen liegen. Ich kann schließlich nicht behaupten, dass die Menschen der Erde gut getan hätten, wenn man einmal von ihrer Funktion als Dünger absieht.

Frage hinreichend beantwortet? Dann überspringen wir an dieser Stelle 272 weitere und kommen zur letzten Frage im letzten Fragebogen: „Wieso weinen die Sterbenden nie?“

Zunächst einmal: wer sagt, dass die nie weinen? Doch werde ich wahrscheinlich auch lachen, wenn ich da so auf dem Totenbett herumlümmele. Aus dem Wohnzimmer höre ich Tante Brunhild in den Schubfächern nach dem Testament wühlen. Menschen, die ich in den letzten zwanzig Jahren nie gesehen habe und nun behaupten, meine Enkel zu sein, schnäuzen künstlich erzeugte Tränen ins Taschentuch. Der Opa aus der Wohnung unter mir, der sich immer aufgeregt hat, wenn ich mit dem Krückstock den Takt zu seiner Lieblings-CD schlug, zeigt dem potentiellen Nachmieter die schlecht gelüftete Wohnung. Tochter Sieglinde, welche schon früher besonders eifrig war, macht mir ein letztes Mal ein schlechtes Gewissen. Sie hat bereits bei Grieneisen einen Kostenvoranschlag eingeholt. Doch wirklich tangieren wird mich dies alles nicht mehr, ich bin fertig. Nun sind die anderen dran mit Welt retten. Ich habe genug Müll getrennt.

Das wird schön: Kein Ein- und Ausatmen den lieben langen Tag, kein Warten auf Frühling, Sommer, Herbst, Winter und Straßenbahn. Ende mit „Hab ich auch das Gas in der Küche ausgedreht?“ Harry Potter Teil Zwölf (Jaja, den wird’s geben!) kann mir gestohlen bleiben. Jetzt wird mal ein paar Jahrzehnte lang im Boden gelegen und gemodert.

Wenn ich viel Glück habe, kommt in Jahrtausenden ein Archäologe vorbei, wäscht mir die zu Erde gewordenen Augäpfel aus der Stirnhöhle und verkauft meinen Schädel an das nächstbeste Heimatmuseum. Dann glotze ich montags bis freitags von neun bis achtzehn Uhr gelangweilte Schulklassen an und wenn mir ein Mädel sympathisch ist, klappere ich mit den Zähnen. Ich kann’s kaum erwarten.

Und wenn ihr jemanden gern habt, nehmt euer Herz in beide Hände und macht was draus.

Eine schöne lebendige Zeit wünscht Leovinus

(2002)

Sieben Pluspunkte für die toten Maya

taschenuhrBoomtown 19/2001

Vom 6.August 2001

Sieben Pluspunkte für die toten Maya

Manch Sonntag döse ich im Park auf der Wiese und denke gestresst: Mein Gott, will diese blöde Kolumne denn nie fertig werden? Es gibt Dinge, die kein wohl verdientes Happy End erlangen. Denn die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte voller Aufschiebungen und Verspätungen. Der erste Homo sapiens aufschieberitus war zweifellos der Neandertaler. Er schob seine eigene Entwicklung so lange auf, bis er sich selbst und damit das Problem erledigte.

Ein weiteres Musterbeispiel ist der biblische Methusalem, welcher gar seinen eigenen Tod um einige hundert Jahre verschob.

In der jüngeren Geschichte der Kunst gelten die russischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts als bekannteste Aufschieblinge. Tolstoi und Dostojewski gelang es stets, das Ende ihrer Romane um ein paar Tausend Seiten hinauszuzögern. Auch auf die letzte Note der Zehnten Sinfonie Ludwig van Beethovens warten wir bis heute.

Selbstverständlich hätte es zahllose weitere berühmte Aufschieber geben können, wären diese nicht leider stets viel zu früh verstorben, um Spuren zu hinterlassen. Deshalb ist es an der Zeit, das Problem genauer unter die Lupe zu nehmen. Immerhin gibt es für jede Verspätung triftige Gründe. Sind bei der Bahn schlichtweg die Fahrpläne schuld, so gibt es bei der Renovierung, oder vielmehr Nicht-Renovierung meines Badezimmers seit fast genau drei Jahren ganze sieben verschiedene Gründe, es in seinem ursprünglichen Zustand zu belassen.

Der erste Grund lautet: Grundrecht. Ich bin ein freier Mensch. Warum muss ich mich mit solch schnöden Dingen befassen? Es ist höchste Zeit, dass sich das Verfassungsgericht diesen Problems annimmt, denn immerhin schränkt es meine Persönlichkeit für die Dauer von einem, wenn nicht gar zwei Wochenenden meines Lebens ein.

Punkt zwei: Der Zeitpunkt. Niemand weiß, wann ich mit diesen Arbeiten definitiv starten soll. Weshalb heute, warum nicht nächste Woche? Warum im Sommer, wenn das Wetter viel zu schön ist, um sich mit solcherlei Innenarbeit zu beschäftigen? Hingegen ist der Winter völlig unpassend. Man muss das Zimmer lüften können, damit die Farbe schnell trocknet. Oder darf die gar nicht schnell trocknen? Woher soll ich das wissen, bin ich Maler? Am besten, ich kaufe erst ein Buch, um mich auf diese hoch komplizierte Tätigkeit vorzubereiten.

Grund drei: Vorbereitung. So eine Arbeit will ordentlich bedacht werden. Die Idee mit dem Buch war ein guter Anfang. Welches Buch? Wo kaufe ich das am besten? Im Internet? Amazon oder lieber BOL? Vielleicht besser Libris? Herrjeh, wer hätte gedacht, dass Renovieren dermaßen schwierig ist!

Aber ich will die Dinge, die ich mache, richtig tun. Denn Grund vier hört auf den Namen Perfektion. Die Sache muss schon Hand und Fuß haben. Was nützt mir ein renoviertes Bad, wenn ich mich darin nicht wohl fühle? Ich habe keine Lust, das Ganze im nächsten Jahr noch einmal durchzuziehen.

Da fällt mir ein, dass hier nächstes Jahr sowieso das Rohrsystem saniert wird. Darauf warte ich jetzt seit drei Jahren. Damit haben wir Grund fünf: die Hausverwaltung. Solche Leute kann ich wirklich leiden. Die haben doch ihr übriges Leben auch nicht im Griff. Ewig schieben sie alles auf und wir müssen die Konsequenzen tragen.

Sonst (Nummer Sechs), wäre das mit der Malerei wirklich einfach: Wenn ich mal begonnen habe, ist das ganz fix fertig. Also kann ich mir mit dem Anfangen wirklich Zeit lassen.

Außerdem muss man die Badezimmer-Problematik einmal im Universal-Maßstab betrachten. Grund Nummer Sieben: Ökologie. Aufschieben fördert die globale Unordnung und ist gut für die Umwelt. Denken wir an die untergegangenen Städte der Maya. Jahrhunderte lang hat dort niemand saniert, installiert oder renoviert. Das Ergebnis ist blühender Dschungel in den Gesteinen! Chlorophyll! Sauerstoff-Lieferant für die gesamte Erde! Hätten die Maya überlebt, würde dieser wertvolle Bestandteil der Atemluft schlichtweg fehlen! Das Gegenbeispiel dazu liefern die benachbarten Azteken. Diese gründeten nämlich 1325 die Stadt Mexiko, in welcher heutzutage der Sauerstoff knapp wird. Dort leben noch immer Azteken und schieben auf, was die Tempelkalender hergeben.

Aber habe ich wirklich Lust auszusterben, bloß weil der in meine Wanne rieselnde Putz die Menschheit rettet? Lieber beginne ich gleich morgen mit dem Badezimmer.

Oder sollte ich zuerst die Küchentür streichen?

Und wenn Ihr jemanden gern habt, nehmt Euer Herz in beide Hände und macht was draus.

Leovinus.

(2001)

Die Wahrheit über Bart-Simpson-Socken

weinflascheBoomtown 05/2001

Vom 29. Januar 2001

Die Wahrheit über Bart-Simpson-Socken

Jedes Mal, wenn ich im Restaurant vor der Weinkarte sitze, fühle ich mich wie ein Gehörloser, der sich zwischen dem dritten und dem fünften Beethovenschen Streichquartett entscheiden soll. Denn, ich gestehe es, ich habe ebenso viel Geschmack wie Manfred Krug oder Rudolf Moshammer.

Das wird besonders dann peinlich, wenn man für den jeweiligen Begleiter/die Begleiterin „doch mal eben schnell einen guten mit auswählen“ soll. Ist es eigentlich opportun, in solcher Gelegenheit die Augen zu schließen und mit dem Finger irgend wohin zu tippen? Eine Zeit lang trank ich gern ich französischen Rotwein – egal welche Sorte, ich fand die alle gut. Und zwar aus dem einzigen Grund, weil eine Menge berühmter Leute behaupteten, sie mögen einen „trockenen Französischen“ zum Abendbrot.

In meinem Regal tummeln sich auch einige CDs mit merkwürdiger Musik. Irgend jemand hat mir eingeredet, diese wäre toll. Zugegeben, die Platten gefallen mir wirklich, aber wer erklärt, warum sie besser sind als eine Million anderer Stücke, die ähnlich klingen? Ich habe Angst vor dem Tag, an dem mir jemand die Phantasien eines betrunkenen Irren als superkreatives Werk unterjubelt, indem er behauptet, es wäre gemeinsam von Tom Waits und Herbie Hancock komponiert worden.

Gibt es eine Schule für allgemeine Geschmacksbildung? Ich würde das gern lernen. Die Geschmacksnerven der meisten Menschen ergreifen schreiend die Flucht, wenn sie von Joghurt-Sorten namens „Coconut“, „Stracchiatella“ oder von „Birnenjoghurt mit Schokoraspeln“ auch nur hören. Meine nicht. Denn ich bin im Supermarkt der Einzige, der palettenweise Plastikbecher umstapelt, um eines einsamen Exemplars der seltenen Spezies „Haselnuss-Joghurt“ habhaft zu werden. Bin ich darob ein schlechter Mensch?

Auch bei Kaffee soll es Unterschiede geben, die sich mir nie erschließen werden. Für mich ist der einzig existierende Unterschied der, der zwischen starkem (= gutem) und dünnem (= schlechtem) Kaffee besteht. Herkunft – eine Plantage, oder? Aroma – wird schon drin sein, ist ja Kaffee.

Wahrscheinlich bin ich einfach zu pragmatisch oder ignorant. In jüngster Zeit ist eine Tüte wirklich billiger Kartoffel-Riffelchips für 99 Pfennig mein abendlicher Begleiter beim Fernsehen. Der Inhalt ist scharf, total versalzen und besteht wahrscheinlich ohnehin zu 60 Prozent aus irgendwelchen chemisch hergestellten Aromastoffen. Eventuell halten andere Menschen, während sie dem Arte-Themenabend folgen, ein auserlesenes Kartoffelchip ins Licht und lobpreisen eine Ode an dieses Meisterwerk: „Oh, du vollendete Krone der Haute-Cuisine, verzeih mir Unwürdigem. Du schmeckst so vortrefflich kartoffelig, dass es eigentlich eine Schande ist, dich zu vertilgen. – Kracks.“ Mir ist der Geschmack völlig gleichgültig. Hauptsache das Ding erfüllt seinen Zweck, für den es als Chip auf die Welt gekommen ist: Man hat etwas zum Knabbern in der Hand. Kracks.

Burger King gab in den vergangenen Jahren Dagobertillionen dafür aus, den Pommes-frites-Geschmack zu optimieren. Der Versuch war übrigens erfolglos, dennoch muss ein Unterschied zu den Kartoffelstäbchen von McDonalds existieren, denn Marktstudien haben ergeben, dass die der größten stinkenden „Restaurant“-Kette beliebter sind. Für mich wird das ein ewiges Rätsel bleiben.

Solches Unwissen beschränkt sich nicht nur auf kulinarische und künstlerische Genüsse. Eine Hose zum Beispiel muss nur passen. Punkt. Eine Winterjacke muss warm halten. Fertig. Ein Hemd sollte man zuknöpfen können. Aus. Warum soll ich mich wochenlang mit Karottenschnitt, unmodernen Reißverschlüssen oder zu großem Kragen herumquälen, wenn es die Sachen am Ende doch nicht in meiner Größe gibt? Dazu sind mir meine Nerven zu schade. Und noch ein Geheimnis: Ich empfinde auch weiße Strümpfe zu schwarzen Hosen und Schuhen nicht als Verbrechen. Ich vermeide sie nur deshalb, weil ich ungern Außenseiter bin. Bart-Simpson-Socken hab ich auch schon getragen (denn sie sind doch witzig!) und von den Farben meiner Unterwäsche rede ich hier lieber gar nicht erst.

Allerdings beschleicht mich langsam ein Verdacht: Wahrscheinlich hat jeder die eine oder andere Geschmacksverirrung, die er oder sie nur ungern offenbaren würde. Irgend jemand muss doch die ganzen U2-Platten kaufen!

Vor kurzem gestand mir Annelie (Name der Freundin geändert), dass sie ebenfalls dieses Fondand-Konfekt mag, das so herrlich-grässlich süß schmeckt. Ein Bekannter eröffnete mir neulich freimütig, er läse gern Konsalik-Romane (Name des Autors geändert). Das tröstete mich: Mein Geschmack ist also nicht besonders schlecht ausgebildet, sondern nur in besonders vielen Punkten anders als der der anderen. Ich habe die leise Hoffnung, die meisten tun nur so, als ob sie alles wüssten. Vielleicht gibt es in Wahrheit deshalb so wenig Haselnuss-Joghurt, weil alle Anderen den Rest weggekauft haben. Aber sicher bin ich mir da nicht.

Deshalb, wenn ihr mit mir in ein Restaurant geht, das fünf Sterne hat, dann nehmt die Weinkarte in beide Hände und sucht euch selbst was aus.

Guten Appetit wünscht Leovinus.

Depressionen leicht gemacht

Boomtown 03/2001

Vom 15. Januar 2001

Depressionen leicht gemacht

Um Kolumnen wie diese zu schreiben ist eine gewisse Portion gesunder Depressivität von Nöten. Da die erste Boomtown-Ausgabe auf den Oktober 1999 datiert, liegt es nahe, dass ich eine nicht unerhebliche Erfahrung im Erlangen des erforderlichen Negativ-Niveaus besitzen sollte.

Verschiedene Methoden haben sich bewährt. Manchmal genügt es, sich Samstag vormittags mit den hektischen Kassiererinnen im Einkaufscenter anzulegen, deren Bestreben darin besteht, frisch gekaufte Ware möglichst kraftvoll aus dem Kassenbereich zu entfernen. Ein probates Mittel, an der Fähigkeit der Welt zu verzweifeln, ist zudem der Versuch, sich bei der „Fitness company“ in Berlin Prenzlauer Berg anzumelden, was dazu führen kann, dass man das verzweifelte Personal fragen möchte, ob man ihm nicht helfen kann. Genügt dies nicht, öffnet man einen beliebigen Houellebecq-Roman auf irgend einer Seite und liest darin, um sich zehn Minuten später auf dem Dach des höchsten Gebäudes der Stadt wieder zu finden. Schließlich und endlich kann es nicht schaden, etwas Geld in seine Depression zu investieren und eine Kontaktanzeige aufzugeben. Frauen erfahren dadurch, dass sich eine ungeahnte Menge an Sediment auf dem Grund der männlichen Seele befinden kann. Männer erleben, dass es keine Frauen gibt, die Kontaktanzeigen lesen.

Viel schwieriger allerdings ist es, die Tiefen des Trübsinns zu verlassen, um wieder in die Gesellschaft der Frohen und Glücklichen zurückzukehren. Jüngst befragte ich völlig übermüdet vier verschiedene Freunde und erhielt prompt vier völlig unterschiedliche Auffassungen dazu.

Freund Nummer Eins ist Anhänger der religiösen Methode. Er begann zwar mit der Aussage, dass Anfälle von Trübsinn und daraus resultierender Schlaflosigkeit zum Alltag gehörten und „schlaf dich nur richtig aus, dann sieht die Welt schon wieder viel runder aus.“ Als er jedoch merkte, dass mich dies nicht wirklich in bessere Laune versetzte, erbot er sich, mit mir in den nächsten Buddhisten-Tempel zu gehen. „Da werden wir dich mal ordentlich durchmeditieren.“

Die Öko-Variante „Hilfe zur Selbsthilfe“ wird von Freund Nummer Zwei bevorzugt. Ich müsse irgend etwas nur für mich ganz allein tun. Wie wäre es beispielsweise mit der wunderbaren Tätigkeit der Herstellung von eigenfüßig bemalten Untertassen? Sie sähen nicht nur hässlicher aus als man selbst. Man hätte auch etwas geschaffen, das noch wertloser ist als das eigene nutzlose Ich. Dieses könnte dann morgens nach durchwachter Nacht am Frühstückstisch das wunderbare Gefühl genießen: Es gibt etwas auf dieser Welt, das von noch weniger Menschen gemocht wird. Aber was tut man, wenn der Geschirrschrank schon vor hässlichen Untertassen platzt?

Noch immer am Boden zerstört befragte ich Freund Nummer Drei per Ferngespräch. Er diagnostizierte zu meiner Erleichterung eine hübsche Midlife-Crisis. Nicht unüblich in meinem Alter, betonte er und bestand auf chemischen Waffen. Flugs diktierte er mir drei verschiedene Medikamente, in jeder Apotheke erhältlich und auch gar nicht teuer. Seitdem weiß ich, dass er nicht nur besser aussieht als ich und den leichteren Job hat, sondern auch noch das bessere Gehalt sein Eigen nennt. Zu einem weiteren Telefonat kam es nicht, da er gerade mit seiner verboten gut gebauten Freundin auf den Malediven weilt.

Also traf ich am Sonntagabend Nummer Vier im Bunde. Dieser erkannte die Ursache meines Tiefs mit glasklarer Psychoanalyse. Am besten wäre es, so erklärte er, zukünftig Niederlagen auch als solche anzuerkennen statt sie zu verdrängen. Zu letzterem würde ich nämlich neigen. Wenn ich mir erst einmal klar machen würde, dass ich nicht perfekt wäre, könnte ich mich auch viel eher annehmen und wäre insgesamt glücklicher. Ich trocknete meine Tränen, dachte kurz darüber nach und kam zu dem Schluss: Aha, ich fühl mich also mies und nutzlos und ungeliebt, weil ich tatsächlich mies und nutzlos und ungeliebt bin.

Außerdem habe ich noch wirklich unfähige Freunde. Ich denke, ich sollte zur Aufheiterung ein paar Seiten Houellebecq lesen.

Eine schöne Woche wünscht Leovinus.

Und wenn ihr jemanden gern habt, nehmt Euer Herz in beide Hände und macht was draus.

(2001)

Virtuelle Wirtschaft

Cogito – 04/2000

Virtuelle Wirtschaft

Na, auch nichts abbekommen? Wie, Sie wissen nicht, wovon ich spreche? Sie haben nicht das »Handelsblatt« abonniert? Sehen Sie nicht jede Woche das Börsenmagazin auf Arte? Läuft auf Ihrem Computer nicht der Bildschirmschoner mit den aktuellsten Börsendaten? Ja, wo waren Sie denn in den vergangenen Monaten?

Also haben Sie auch keine. Seien Sie nicht traurig, die meisten haben keine, nur ungefähr jeder Fünfte soll ja etwas abbekommen haben von diesen Märchenaktien, die irgendwie unendlichen Reichtum aus dem Nichts versprechen. Natürlich nur dann, wenn man genau weiß, wann man wieder verkaufen muss. Am besten wäre es wahrscheinlich gleich nach der Emission gewesen, aber wenn das alle gemacht hätten…

Ist schon Wahnsinn, wie schnell man zu Geld kommen kann, wenn man sich nur richtig auskennen würde. In Amerika, so stand es vor einiger Zeit in einem der beiden führenden Nachrichtenmagazine Deutschlands, in Amerika jedenfalls gibt es eine Kleinstadt, die voll ist mit Aktienmillionären. Vor achtzig Jahren haben die alle, oder ihre Vorfahren, ein paar Anteile eines kleinen Unternehmens gekauft, weil die so billig waren und der dörfliche Finanzberater etwas Geld für einen Bekannten brauchte. Es war kein großes Risiko für sie. Die Firma hatte irgendwas mit Erfrischungsgetränken zu tun.

Damit kann man heutzutage keinen Börsenfuchs mehr aus dem Wald locken. Den muss man schon mit Computern oder Kommunikation locken. Natürlich genügt es nicht, einfach irgendwem seinen Dispokredit in den Rachen zu werfen. Es muss schon der sein, der am weitesten den Mund aufreißt. Dass das vorher ein eher glückloses »Siemens-Halbleiterwerk« war, das sich jüngst mittels angliziertem Latein auf den Markt warf, wird erst wieder jemanden interessieren, wenn es um die wirklich entscheidenden Dinge in der Wirtschaft geht, nämlich um Angebot und Nachfrage von Produkten. Wer kauft schon deutsche Chips? Vielleicht sollte man doch in Chio-Chips investieren. Das wären dann auch wieder so etwas Ähnliches wie Nahrungsmittel.

Glaubt wirklich jemand, dass man mit dem Internet real reich werden kann? Sofern es so etwas wie »realen« Reichtum, der sich aus Geld speist, überhaupt gibt. Firmen wie Netscape oder Yahoo leben doch auch nur auf Pump, weil irgendwer glaubt, dass sich das in werweißwievielen Jahren mal »rechnen« wird. Aber wie kann eine Internet-Suchmaschine anders Gewinne einfahren als durch Werbung?

Die Wirtschaft ist auf dem Weg zum Reklame-Inzest: »Yahoo« macht Werbung für T-Online. Robert T. Online, für dessen Namen man die Telekom auf Schmerzensgeld verklagen müsste, macht seinerseits Werbung für GMX. Natürlich braucht GMX auch etwas Geld und macht also Werbung… da capo ad infinitum. Gibt es da noch irgendwen, der einfach irgend etwas herstellt, das die Leute auch brauchen?

Erst, wenn die letzte Suchmaschine nur noch Müll gefunden hat, der letzte E-Mail-Server abgestürzt, das letzte Telefonkabel vor Überlastung verschmort ist und das letzte Moorhuhn abgeschlachtet wurde, werden wir merken, dass auch Aktien nur Bits und Bytes sind.

Auch ohne Geld reich: Leovinus.

(geschrieben am 20.3.2000 – ein knappes Jahr, bevor die Internet-Blase platzte)