Warum ich tot bin

beinkatzeDie Chinesen sind das normalste Volk der Welt – eine Kolumne voll verrückter Logik.

Boomtown 14/2001

Vom 16.April 2001

Warum ich tot bin

Eine weise Waise sang in wundersamer Weise leise eine Frühjahrsweise.

Soviel dazu, doch nun zum Gegenstand dieser Kolumne: Wann habt Ihr zum letzten Mal etwas Verrücktes gemacht? Also, so etwas Ähnliches wie alle Möbel innerhalb von zwei Monaten fünf Mal umzuräumen, weil Euch die Anordnung nicht gefiel. Oder das Schlafzimmer im unteren Dreiviertel blau zu streichen, dann eine dicke Wellenlinie und den Rest bis zur Decke terrakottafarben. Oder auch vier Wochen mit siebzig Buddhisten in der Transsibirischen Eisenbahn quer durch Russland zu fahren? Aber ist dies alles wahrhaft verrückt? Bin ich auch verrückt, wenn ich zum Beispiel am Ostersonntag um halb fünf Uhr (in Worten: Sonntag morgen 4.30 Uhr!) aufstehe, um das Sechs-Uhr-Osterkonzert nicht zu verpassen? Sicher gibt es eine ganz normale Erklärung dafür.

Vielleicht steckt ja die Angst vor dem Älterwerden dahinter? Damit ließe sich immerhin erklären, warum Menschen mit zunehmenden Alter immer wunderlicher werden. Um uns selbst unsere Jugend zu beweisen, brauchen wir oben erwähnte Aussetzer. Richtige Verrücktheit verträgt unser alternder Körper nämlich nicht. Neulich behauptete im Radio jemand, ab fünfundzwanzig begännen wir zu sterben. Eigentlich ein wunderbarer Gedanke: Seit zehn Jahren bin ich auf dem Weg ins Paradies. (Die Hölle schließe ich jetzt für mich einfach mal aus.) Ziehe ich den Satz eines unbekannten Weisen hinzu und behaupte, dass der Weg das Ziel sei, bin ich quasi schon im Himmel! Zehn Jahre tot und keiner hat’s gemerkt. So ungefähr muss sich George Turklebaum gefühlt haben, als er fünf Tage nach seinem Ableben in einem New Yorker Verlagshaus durch eine Putzfrau vom Bürostuhl gestupst wurde. Das erinnert mich, um wieder den Bogen vom Ende zu einem Anfang zu bekommen, an mein erstes Mal.

Ich finde es tatsächlich großartig, dass sich just an dieser Stelle wieder die volle Aufmerksamkeit des Lesers hier versammelt. Doch geht es jetzt nicht um jenes erste Mal, das meiner Pickel-Ära ein Ende setzte (dazu vielleicht später mehr in dieser Kolumne, man weiß ja nie), sondern um die Premiere im erfolgreichen Konsum nicht ganz legaler, aber auch nicht völlig verbotener Drogen. Als die (möglicherweise bekannte) Wirkung einsetzte, war ich stundenlang felsenfest davon überzeugt, soeben gestorben zu sein. Nebenbei dichtete ich solch großartige Perlen der Weltliteratur wie

„Katzen / kratzen / an den Beinen. / Sind’s die meinen, / kratzen sie zurück.“

Das Interessante an dieser Geschichte ist, dass sie mir vor etwa zehn Jahren widerfuhr. Dies bringt mich wirklich ins Grübeln.

Doch zurück zum Thema. Die klassische Frage lautet natürlich: Wer bestimmt, was verrückt ist? Die Normalen wissen nicht, was das ist. Die Verrückten empfinden sich größtenteils selbst als völlig in Ordnung. Meine Theorie lautet ja, dass es gar keine Normalen gibt und jeder verrückt ist. Etwa wie in dem Monty-Python-Film, in dem „Brian“ vor lauschender Menschenmenge erklärt, dass alle Individuen und einzigartig seien. Eine einzelne Stimme antwortet ihm: „Ich nicht.“ Angenommen, es gab diesen unbekannten Antworter wirklich: War er nun der einzig Normale (was ein Widerspruch in sich scheint) oder der einsame Verrückte?

Wo befindet sich jener schmale Grat, der die Narren von den Weisen scheidet? Gibt es einen pH-Test, der besagt, auf einer Skala von Null bis Zehn ist alles über Fünf nicht normal? In der vergangenen Woche las ich einen hoch interessanten Artikel über Frauen, die bedingt durch eine kleine, aber bedeutsame Änderung auf der Netzhaut, mehr Farben sehen können als der Rest der Menschheit. Sind sie dadurch eine andere Art? Kann man alle mit blauen, grünen oder braunen Augen nicht als Mutanten bezeichnen? Wer oder was ist, zum Kuckuck, normal?

„Ist es normal, nur weil alle es tun?“ fragt eine deutsche Hiphop-Band. Wäre normal, was die Mehrheit tut, dann wäre es das Trinken aus Bierdosen. Und schwanger zu sein wäre etwas Unnormales. Die Chinesen wären das einzig normale Volk auf Erden. Nun ja, vielleicht sind sie es ja auch. Es gab schließlich – um nun den Kreis zum ersten Satz zu schließen – so viele weise Chinesen. Und die können ja nicht alle verrückt gewesen sein.

Wie dem auch sei: Wenn Ihr jemanden gern habt, nehmt Euer Herz in beide Hände und macht was draus.

Eine schöne, verrückte Woche wünscht Leovinus.

(2001)

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