Vorwärts in die Vergangenheit

Boomtown 10/2000

Vom 10.Mai 2000

Vorwärts in die Vergangenheit!

Am letzten Sonnabend kam ich in den Genuss einer Zeitreise. Im Berliner Biergarten »Prater« wurde ein Boxring aufgestellt und bei ca. 30 Grad standen sich in 15 Kämpfen Amateurboxer gegenüber. Die Kämpfe gingen über die klassischen 4 x 2 Minuten und waren von recht unterschiedlicher Qualität. Das Besondere daran war, dass die ganze Veranstaltung eine nahezu Zille-sche Anmutung bot. Das Publikum an den Biertischen war bunt durchmischt. Freunde der Sportler, Handy-tragende Cowboys, ältere Herren, teils in Begleitung von Frau, Freundin und/oder Kind feuerten ihre Favoriten an. Dann stiegen Rufe wie »Vorwärts, Rico, Leberhaken!«, »Der blutet schon!« oder »Ejh, knutschen könnt ihr zu Hause!« durch die Bäume in den blauen Himmel. Das sind die Momente, an denen man sich fragt: Hat das Internet wirklich eine reale Chance, zum Massenmedium zu werden? Was sollen all diese Mitglieder der arbeitenden oder auch nicht arbeitenden Bevölkerung mit so etwas Totem wie bunten Schreibtischsymbolen, wenn das wahre Leben doch viel prallere Eindrücke vermittelt?

Dass Berlin sich in die zwanziger Jahre zurück entwickelt, ist wohl spätestens seit der Eroberung des Potsdamer Platzes durch die Bevölkerung offensichtlich. Konsum, Amüsement, Ablenkung – lasst uns die Misere mit den Arbeitslosen vergessen, heißt das Motto. Wobei an dieser Stelle vielleicht gefragt werden sollte, wer hier wen erobert hat. Zudem ist mir, obwohl Berliner, nicht ganz ersichtlich, wo nun eigentlich genau der Potsdamer Platz liegt. Nach einem Blick auf den Stadtplan, muss man nämlich erkennen, dass der »wahre« Platz zur Zeit eine öde Wiese ist, auf der ein großer Privat-TV-Sender seinen Aussichtsballon in die Lüfte steigen lässt und damit Berlin um eine Rummelplatz-Attraktion reicher macht. Auch der ganze Glanz in den Arkaden erinnert mich sehr daran, wie es vor ca. 80 Jahren in der Hauptstadt ausgesehen haben mag. Was daraus geworden ist, kann man übrigens schön am heutigen Tacheles sehen, einstmals ein hochdotiertes Kaufhaus in bester Lage.

Die Kombination der 20er Jahre des 20. und des 21. Jahrhunderts war übrigens am Montag im Kesselhaus der ehemaligen Schultheiß-Brauerei in Prenzlauer Berg zu bewundern. In den historischen Gemäuern erklärte Douglas Adams (dem ich an dieser Stelle nicht genug für meinen Namen danken kann), seine Vision der neuen Kommunikationsgesellschaft. Er ist »Mitherausgeber« der Online-Ausgabe des Reiseführers »Per Anhalter durch die Galaxis«; dies selbstverständlich nur bei der irdischen Fassung. Bei dieser Gelegenheit hat er es gewagt, den Tod des Buches in seiner jetzigen Form zu prophezeien. Sein schlagendstes Argument dafür war übrigens, dass man vor ca. hundert Jahren auch eher eine persönliche Bindung an ein Pferd hatte und nicht glauben wollte, dass es sich so einfach durch einen Haufen Ventile, Kolben und Schrauben ersetzen lassen werde. Dennoch hat das Pferd verloren, oder reiten Sie morgen früh zur Arbeit?

Ergebnis der ganzen Entwicklung wird wahrscheinlich sein, dass wir an einem schönen Sonntagnachmittag des Jahres 2023 im Prater sitzen werden und grölende Machos dabei beobachten können, wie sie die Boxergebnisse live in Ihren »Reiseführer« im Taschenformat tippen und mit demselben Gerät so ganz nebenbei ein neues Bier bestellen.

Eine schöne zukünftige Woche wünscht Leovinus.

Und beim nächsten Mal unterhalten wir uns vielleicht darüber, wie es aussieht, wenn Verkäuferinnen im Supermarkt kleine Plüschtiere zum Wiehern bringen, indem sie sie mit voller Wucht an die Wand werfen.

Diese Kolumne erscheint regelmäßig im Forum von www.berlinerzimmer.de (seit  Oktober 1999) und auf meiner Homepage.

(2000)

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