Virtuelle Wirtschaft

Cogito – 04/2000

Virtuelle Wirtschaft

Na, auch nichts abbekommen? Wie, Sie wissen nicht, wovon ich spreche? Sie haben nicht das »Handelsblatt« abonniert? Sehen Sie nicht jede Woche das Börsenmagazin auf Arte? Läuft auf Ihrem Computer nicht der Bildschirmschoner mit den aktuellsten Börsendaten? Ja, wo waren Sie denn in den vergangenen Monaten?

Also haben Sie auch keine. Seien Sie nicht traurig, die meisten haben keine, nur ungefähr jeder Fünfte soll ja etwas abbekommen haben von diesen Märchenaktien, die irgendwie unendlichen Reichtum aus dem Nichts versprechen. Natürlich nur dann, wenn man genau weiß, wann man wieder verkaufen muss. Am besten wäre es wahrscheinlich gleich nach der Emission gewesen, aber wenn das alle gemacht hätten…

Ist schon Wahnsinn, wie schnell man zu Geld kommen kann, wenn man sich nur richtig auskennen würde. In Amerika, so stand es vor einiger Zeit in einem der beiden führenden Nachrichtenmagazine Deutschlands, in Amerika jedenfalls gibt es eine Kleinstadt, die voll ist mit Aktienmillionären. Vor achtzig Jahren haben die alle, oder ihre Vorfahren, ein paar Anteile eines kleinen Unternehmens gekauft, weil die so billig waren und der dörfliche Finanzberater etwas Geld für einen Bekannten brauchte. Es war kein großes Risiko für sie. Die Firma hatte irgendwas mit Erfrischungsgetränken zu tun.

Damit kann man heutzutage keinen Börsenfuchs mehr aus dem Wald locken. Den muss man schon mit Computern oder Kommunikation locken. Natürlich genügt es nicht, einfach irgendwem seinen Dispokredit in den Rachen zu werfen. Es muss schon der sein, der am weitesten den Mund aufreißt. Dass das vorher ein eher glückloses »Siemens-Halbleiterwerk« war, das sich jüngst mittels angliziertem Latein auf den Markt warf, wird erst wieder jemanden interessieren, wenn es um die wirklich entscheidenden Dinge in der Wirtschaft geht, nämlich um Angebot und Nachfrage von Produkten. Wer kauft schon deutsche Chips? Vielleicht sollte man doch in Chio-Chips investieren. Das wären dann auch wieder so etwas Ähnliches wie Nahrungsmittel.

Glaubt wirklich jemand, dass man mit dem Internet real reich werden kann? Sofern es so etwas wie »realen« Reichtum, der sich aus Geld speist, überhaupt gibt. Firmen wie Netscape oder Yahoo leben doch auch nur auf Pump, weil irgendwer glaubt, dass sich das in werweißwievielen Jahren mal »rechnen« wird. Aber wie kann eine Internet-Suchmaschine anders Gewinne einfahren als durch Werbung?

Die Wirtschaft ist auf dem Weg zum Reklame-Inzest: »Yahoo« macht Werbung für T-Online. Robert T. Online, für dessen Namen man die Telekom auf Schmerzensgeld verklagen müsste, macht seinerseits Werbung für GMX. Natürlich braucht GMX auch etwas Geld und macht also Werbung… da capo ad infinitum. Gibt es da noch irgendwen, der einfach irgend etwas herstellt, das die Leute auch brauchen?

Erst, wenn die letzte Suchmaschine nur noch Müll gefunden hat, der letzte E-Mail-Server abgestürzt, das letzte Telefonkabel vor Überlastung verschmort ist und das letzte Moorhuhn abgeschlachtet wurde, werden wir merken, dass auch Aktien nur Bits und Bytes sind.

Auch ohne Geld reich: Leovinus.

(geschrieben am 20.3.2000 – ein knappes Jahr, bevor die Internet-Blase platzte)