Die Wahrheit über Bart-Simpson-Socken

weinflascheBoomtown 05/2001

Vom 29. Januar 2001

Die Wahrheit über Bart-Simpson-Socken

Jedes Mal, wenn ich im Restaurant vor der Weinkarte sitze, fühle ich mich wie ein Gehörloser, der sich zwischen dem dritten und dem fünften Beethovenschen Streichquartett entscheiden soll. Denn, ich gestehe es, ich habe ebenso viel Geschmack wie Manfred Krug oder Rudolf Moshammer.

Das wird besonders dann peinlich, wenn man für den jeweiligen Begleiter/die Begleiterin „doch mal eben schnell einen guten mit auswählen“ soll. Ist es eigentlich opportun, in solcher Gelegenheit die Augen zu schließen und mit dem Finger irgend wohin zu tippen? Eine Zeit lang trank ich gern ich französischen Rotwein – egal welche Sorte, ich fand die alle gut. Und zwar aus dem einzigen Grund, weil eine Menge berühmter Leute behaupteten, sie mögen einen „trockenen Französischen“ zum Abendbrot.

In meinem Regal tummeln sich auch einige CDs mit merkwürdiger Musik. Irgend jemand hat mir eingeredet, diese wäre toll. Zugegeben, die Platten gefallen mir wirklich, aber wer erklärt, warum sie besser sind als eine Million anderer Stücke, die ähnlich klingen? Ich habe Angst vor dem Tag, an dem mir jemand die Phantasien eines betrunkenen Irren als superkreatives Werk unterjubelt, indem er behauptet, es wäre gemeinsam von Tom Waits und Herbie Hancock komponiert worden.

Gibt es eine Schule für allgemeine Geschmacksbildung? Ich würde das gern lernen. Die Geschmacksnerven der meisten Menschen ergreifen schreiend die Flucht, wenn sie von Joghurt-Sorten namens „Coconut“, „Stracchiatella“ oder von „Birnenjoghurt mit Schokoraspeln“ auch nur hören. Meine nicht. Denn ich bin im Supermarkt der Einzige, der palettenweise Plastikbecher umstapelt, um eines einsamen Exemplars der seltenen Spezies „Haselnuss-Joghurt“ habhaft zu werden. Bin ich darob ein schlechter Mensch?

Auch bei Kaffee soll es Unterschiede geben, die sich mir nie erschließen werden. Für mich ist der einzig existierende Unterschied der, der zwischen starkem (= gutem) und dünnem (= schlechtem) Kaffee besteht. Herkunft – eine Plantage, oder? Aroma – wird schon drin sein, ist ja Kaffee.

Wahrscheinlich bin ich einfach zu pragmatisch oder ignorant. In jüngster Zeit ist eine Tüte wirklich billiger Kartoffel-Riffelchips für 99 Pfennig mein abendlicher Begleiter beim Fernsehen. Der Inhalt ist scharf, total versalzen und besteht wahrscheinlich ohnehin zu 60 Prozent aus irgendwelchen chemisch hergestellten Aromastoffen. Eventuell halten andere Menschen, während sie dem Arte-Themenabend folgen, ein auserlesenes Kartoffelchip ins Licht und lobpreisen eine Ode an dieses Meisterwerk: „Oh, du vollendete Krone der Haute-Cuisine, verzeih mir Unwürdigem. Du schmeckst so vortrefflich kartoffelig, dass es eigentlich eine Schande ist, dich zu vertilgen. – Kracks.“ Mir ist der Geschmack völlig gleichgültig. Hauptsache das Ding erfüllt seinen Zweck, für den es als Chip auf die Welt gekommen ist: Man hat etwas zum Knabbern in der Hand. Kracks.

Burger King gab in den vergangenen Jahren Dagobertillionen dafür aus, den Pommes-frites-Geschmack zu optimieren. Der Versuch war übrigens erfolglos, dennoch muss ein Unterschied zu den Kartoffelstäbchen von McDonalds existieren, denn Marktstudien haben ergeben, dass die der größten stinkenden „Restaurant“-Kette beliebter sind. Für mich wird das ein ewiges Rätsel bleiben.

Solches Unwissen beschränkt sich nicht nur auf kulinarische und künstlerische Genüsse. Eine Hose zum Beispiel muss nur passen. Punkt. Eine Winterjacke muss warm halten. Fertig. Ein Hemd sollte man zuknöpfen können. Aus. Warum soll ich mich wochenlang mit Karottenschnitt, unmodernen Reißverschlüssen oder zu großem Kragen herumquälen, wenn es die Sachen am Ende doch nicht in meiner Größe gibt? Dazu sind mir meine Nerven zu schade. Und noch ein Geheimnis: Ich empfinde auch weiße Strümpfe zu schwarzen Hosen und Schuhen nicht als Verbrechen. Ich vermeide sie nur deshalb, weil ich ungern Außenseiter bin. Bart-Simpson-Socken hab ich auch schon getragen (denn sie sind doch witzig!) und von den Farben meiner Unterwäsche rede ich hier lieber gar nicht erst.

Allerdings beschleicht mich langsam ein Verdacht: Wahrscheinlich hat jeder die eine oder andere Geschmacksverirrung, die er oder sie nur ungern offenbaren würde. Irgend jemand muss doch die ganzen U2-Platten kaufen!

Vor kurzem gestand mir Annelie (Name der Freundin geändert), dass sie ebenfalls dieses Fondand-Konfekt mag, das so herrlich-grässlich süß schmeckt. Ein Bekannter eröffnete mir neulich freimütig, er läse gern Konsalik-Romane (Name des Autors geändert). Das tröstete mich: Mein Geschmack ist also nicht besonders schlecht ausgebildet, sondern nur in besonders vielen Punkten anders als der der anderen. Ich habe die leise Hoffnung, die meisten tun nur so, als ob sie alles wüssten. Vielleicht gibt es in Wahrheit deshalb so wenig Haselnuss-Joghurt, weil alle Anderen den Rest weggekauft haben. Aber sicher bin ich mir da nicht.

Deshalb, wenn ihr mit mir in ein Restaurant geht, das fünf Sterne hat, dann nehmt die Weinkarte in beide Hände und sucht euch selbst was aus.

Guten Appetit wünscht Leovinus.

Depressionen leicht gemacht

Boomtown 03/2001

Vom 15. Januar 2001

Depressionen leicht gemacht

Um Kolumnen wie diese zu schreiben ist eine gewisse Portion gesunder Depressivität von Nöten. Da die erste Boomtown-Ausgabe auf den Oktober 1999 datiert, liegt es nahe, dass ich eine nicht unerhebliche Erfahrung im Erlangen des erforderlichen Negativ-Niveaus besitzen sollte.

Verschiedene Methoden haben sich bewährt. Manchmal genügt es, sich Samstag vormittags mit den hektischen Kassiererinnen im Einkaufscenter anzulegen, deren Bestreben darin besteht, frisch gekaufte Ware möglichst kraftvoll aus dem Kassenbereich zu entfernen. Ein probates Mittel, an der Fähigkeit der Welt zu verzweifeln, ist zudem der Versuch, sich bei der „Fitness company“ in Berlin Prenzlauer Berg anzumelden, was dazu führen kann, dass man das verzweifelte Personal fragen möchte, ob man ihm nicht helfen kann. Genügt dies nicht, öffnet man einen beliebigen Houellebecq-Roman auf irgend einer Seite und liest darin, um sich zehn Minuten später auf dem Dach des höchsten Gebäudes der Stadt wieder zu finden. Schließlich und endlich kann es nicht schaden, etwas Geld in seine Depression zu investieren und eine Kontaktanzeige aufzugeben. Frauen erfahren dadurch, dass sich eine ungeahnte Menge an Sediment auf dem Grund der männlichen Seele befinden kann. Männer erleben, dass es keine Frauen gibt, die Kontaktanzeigen lesen.

Viel schwieriger allerdings ist es, die Tiefen des Trübsinns zu verlassen, um wieder in die Gesellschaft der Frohen und Glücklichen zurückzukehren. Jüngst befragte ich völlig übermüdet vier verschiedene Freunde und erhielt prompt vier völlig unterschiedliche Auffassungen dazu.

Freund Nummer Eins ist Anhänger der religiösen Methode. Er begann zwar mit der Aussage, dass Anfälle von Trübsinn und daraus resultierender Schlaflosigkeit zum Alltag gehörten und „schlaf dich nur richtig aus, dann sieht die Welt schon wieder viel runder aus.“ Als er jedoch merkte, dass mich dies nicht wirklich in bessere Laune versetzte, erbot er sich, mit mir in den nächsten Buddhisten-Tempel zu gehen. „Da werden wir dich mal ordentlich durchmeditieren.“

Die Öko-Variante „Hilfe zur Selbsthilfe“ wird von Freund Nummer Zwei bevorzugt. Ich müsse irgend etwas nur für mich ganz allein tun. Wie wäre es beispielsweise mit der wunderbaren Tätigkeit der Herstellung von eigenfüßig bemalten Untertassen? Sie sähen nicht nur hässlicher aus als man selbst. Man hätte auch etwas geschaffen, das noch wertloser ist als das eigene nutzlose Ich. Dieses könnte dann morgens nach durchwachter Nacht am Frühstückstisch das wunderbare Gefühl genießen: Es gibt etwas auf dieser Welt, das von noch weniger Menschen gemocht wird. Aber was tut man, wenn der Geschirrschrank schon vor hässlichen Untertassen platzt?

Noch immer am Boden zerstört befragte ich Freund Nummer Drei per Ferngespräch. Er diagnostizierte zu meiner Erleichterung eine hübsche Midlife-Crisis. Nicht unüblich in meinem Alter, betonte er und bestand auf chemischen Waffen. Flugs diktierte er mir drei verschiedene Medikamente, in jeder Apotheke erhältlich und auch gar nicht teuer. Seitdem weiß ich, dass er nicht nur besser aussieht als ich und den leichteren Job hat, sondern auch noch das bessere Gehalt sein Eigen nennt. Zu einem weiteren Telefonat kam es nicht, da er gerade mit seiner verboten gut gebauten Freundin auf den Malediven weilt.

Also traf ich am Sonntagabend Nummer Vier im Bunde. Dieser erkannte die Ursache meines Tiefs mit glasklarer Psychoanalyse. Am besten wäre es, so erklärte er, zukünftig Niederlagen auch als solche anzuerkennen statt sie zu verdrängen. Zu letzterem würde ich nämlich neigen. Wenn ich mir erst einmal klar machen würde, dass ich nicht perfekt wäre, könnte ich mich auch viel eher annehmen und wäre insgesamt glücklicher. Ich trocknete meine Tränen, dachte kurz darüber nach und kam zu dem Schluss: Aha, ich fühl mich also mies und nutzlos und ungeliebt, weil ich tatsächlich mies und nutzlos und ungeliebt bin.

Außerdem habe ich noch wirklich unfähige Freunde. Ich denke, ich sollte zur Aufheiterung ein paar Seiten Houellebecq lesen.

Eine schöne Woche wünscht Leovinus.

Und wenn ihr jemanden gern habt, nehmt Euer Herz in beide Hände und macht was draus.

(2001)