Vom 14.Mai 2001
Das Verschwinden der Kaffeekannen
In meiner Familie pflegte man zur Eröffnung der nachmittäglichen Kaffeetafel die schönen Worte „Prost, Kaffee.“ zu sprechen. Niemandem aber scheint im Laufe der Jahre aufgefallen zu sein, dass sich ein dazumal alltäglicher Gegenstand stumm aus dem Leben der Menschen zu verabschieden droht: die Kaffeekanne.
Zu Zeiten, in denen mich von meinen Eltern nur zwei Zimmertüren trennten, galt das Kaffeekochen als wahre Handarbeit. Zu Beginn der Prozedur stellte meine Mutter eine Porzellankanne auf den Tisch. Darüber platzierte sie einen Plastiktrichter in möglichst schreiend bunter Farbe, in welchen sie eine Filtertüte steckte. Diese befüllte Mama mit einer am Geschmack orientierten Menge Kaffeepulver. Aus einem Wasserkessel, welcher natürlich nicht elektrisch funktionierte, sondern frisch vom Herd genommen wurde, goss sie heißes Wasser über das Pulver bis der Trichter voll war. Nun galt es zu warten, bis die Flüssigkeit in die Kanne abgelaufen war, um erneut Wasser nachzukippen.
Eine andere Methode, an den begehrten Türkentrank zu gelangen, war die Verwendung eines zylinderförmigen Metalltrichters, über dessen Bodenöffnung man ein Sieb legte, worauf wiederum ein rundes Blatt Filterpapier gelegt wurde. Hierauf schichtete man das Kaffeepulver. Es folgte erneut die Nummer mit dem kochenden Wasser aus dem Kessel und innerhalb einer halben Stunde produzierte man mühselig einen Liter frischen Kaffee. Kann sich daran noch irgend jemand erinnern?
Im Zusammenhang mit der Erfindung von Kaffeemaschinen ist die Bedeutung normaler Porzellan-Kaffeekannen leider erheblich zurückgegangen. In vielen Fällen fristeten sie ein Rentnerdasein als Gießkanne, bis ihnen auch hier durch unvorsichtiges Hantieren der Garaus gemacht wurde. So verschwanden Stück um Stück sowohl die dickbauchigen Erbstücke aus Omas Zeiten wie auch die schlanken, hoch gewachsenen Siebzigerjahre-Exemplare. Sie alle befinden sich im Geschirr-Nirvana: die schlicht Weiß-Geriffelten, die zart Blumenbemusterten, selbst jene mit der wegweisenden Aufschrift „Kaffee“ für die Einsteiger-Hausfrau.
Bis heute gibt es kaum adäquaten Ersatz für sie. In den Haushalten tummeln sich schnöde gläserne Behältnisse mit Plastik-Henkel für Billig-Kaffeemaschinen. Schlimmer noch sind Thermoskannen, die mit ihrem Blumenaufdruck vortäuschen, sie wären noch die gute Alte. In Single-Haushalten finden sich häufig kleine italienische Glaszylinder mit diesem komischen Sieb zum Herunterdrücken, wobei man immer höllisch aufpassen muss, dass die Kanne auf rutschigem Untergrund nicht in die Horizontale entweicht und dabei ihren Inhalt entleert. Solcherlei Unglücke geschahen zu Trichterzeiten nie. Damals verlor höchstens der ganze Aufsatz sein Gleichgewicht und ergoss die heiße Brühe auf den sonntäglich blanken Küchentisch.
Die Ehre der guten alten Kaffeekanne wird nur an einem Ort deutscher Gemütlichkeit hoch gehalten: in Freiluftlokalitäten. Hier bestehen die Kellner noch immer darauf, dass es „draußen nur Kännchen“ gäbe. Eine einzelne Tasse Kaffe zu bestellen ist aussichtslos. Die Garcons scheinen schlichtweg nicht in der Lage, gefüllte Tassen ohne Flüssigkeitsverlust zu den Tischen zu transportieren.
Offenbar gelang es in Jahrtausenden Menschheitsgeschichte und Jahrzehnen Freiluftcafé-Kultur niemandem, Deckel für Kaffeetassen zu züchten. Deshalb meine Forderung an die Gentechniker/innen in der Leserschaft: Macht Euch an die Entwicklung nicht-kleckernder Freiluftcafé-Kellner! Aber lasst Euch ein wenig Zeit, denn schließlich wäre damit die Schlacht für die Kaffeekannen endgültig verloren. Vielleicht könntet Ihr Euch zunächst mit der Herstellung von flinken Kellnern begnügen. Oder wenigstens ein paar freundliche produzieren.
Interessant ist auch, dass es nur den „Kännchen“, also den kleinen, wendigen, flexiblen unter den Kannen gelang, sich eine Überlebensnische zu sichern. Die Alten und Dicken wurden – ganz ähnlich wie bei den Menschen – ausgegrenzt, verspottet, verschrottet.
Das Verschwinden der Kaffeekannen geht einher mit dem allgemeinen Verlust der Kaffeetrink-Kultur. Leute unter 35 zelebrieren höchst selten Geburtstagsfeiern, zu welchen sich die Gäste um eine schön gedeckte Kaffeetafel versammeln. Ein freundlicher Mensch balanciert Erdbeertortenstücke auf die Teller und eine freundliche Menschin gießt aus einer großen geblümten Kanne die Tassen voll.
Wahrscheinlich gibt es gute Gründe dafür, dieses Ritual nur noch in als „spießig“ bezeichneten Sozietäten zu vollziehen. Doch gebe ich gern wieder einmal zu bedenken, dass Rituale ein Stück Heimat sind. Um unseres lieben Zuhauses willen sollten wir vielleicht wieder einmal das weiße Tischtuch, das uns Mutter zum Achtzehnten geschenkt hat, aus dem Schrank ziehen, die Porzellankanne, die uns Oma hinterließ, entstauben, alle Freunde einladen und einfach Kaffee trinken feiern. Denn erst, wenn die letzte Porzellankanne einem Streit zum Opfer fiel, die letzte Tasse durch einen Pott ersetzt wurde und Papiertütchen die letzte Zuckerdose verdrängt haben, werdet Ihr merken, dass McDonalds doch keinen Kaffee kochen kann.
Und wenn Ihr jemanden gern habt, nehmt Euer Herz in beide Hände und macht was draus.
Eine schöne Woche wünscht Leovinus.
(2001)