Kekse naschen

kekseWie ich hierher geraten bin – ich weiß es nicht. Aber freiwillig habe ich mich garantiert nicht in diese völlige Schwärze begeben.

Als ich Kind war, hat mich Mutter immer in die kleine Kammer eingesperrt, wenn ich verbotenerweise an den Keksen war. Zwischen Besen und Werkzeug. Ich glaube, ich hätte lieber eine Tracht Prügel bekommen, statt mich ewig in der Dunkelheit zu fürchten.

Wahrscheinlich ist das wieder so ein Streich von Schulzhofer, Professor Schulzhofer. Letzten August hat der den Braun mit zwei Flaschen Whisky abgefüllt, mitten auf dem Acker ausgesetzt und sich halbtot gelacht, als der auf einem Mähdrescher nach Hause gefahren wurde. So ein Besäufnis könnte die mörderischen Kopfschmerzen erklären, mit denen ich vor einer Viertelstunde aufgewacht bin. Oder ist es eine halbe Stunde her? Ob ich einfach mal rufe? Aber was eigentlich – hallo, Hilfe, hört mich jemand!? Ich mach mich doch nicht lächerlich. Wahrscheinlich sitzen die jetzt alle irgendwo und amüsieren sich köstlich über den blöden Wesselmeyer, der in einem schwarzen stummen Loch herum tapst und den Ausgang sucht. Die Krautfahn, deren Blödheit nur von der Größe ihrer Titten übertroffen wird, kriegt sich wahrscheinlich nicht mehr ein. Und Lobetanz steht hinter ihr, tätschelt ihr den Rücken und grinst dämlich. Hätte gut passieren können, dass er selbst jetzt hier sitzt. Neben den beiden steht Eckehart Braun im unvermeidlichen blau-karierten Hemd. Seine Frau fand die Dinger vom ersten Tag an grässlich. Sie hat es mir selbst gesagt, letzte Woche, während Braun in Düsseldorf auf einem dieser überflüssigen Kongressen herumvögelte. Ihre Wohnung ist zwar nicht mein Geschmack, aber das Schlafzimmer ist phantastisch.

Schätze, die haben hier eine Infrarot-Kamera installiert und hocken vor einem Monitor. Professor Schulzhofer sitzt am Arbeitsplatz und schaut ab und zu rüber. Wo, um Himmels Willen gibt es noch eine derart lichtlose Dunkelheit und – vor allem – eine solch massive Stille? Kein Brummen, kein Knirschen, nur meine eigenen Bewegungen verursachen Geräusche, fremde Geräusche. Zu laut, um mich in Sicherheit zu wiegen.

Mutter meinte immer, wenn ich artig wäre, dürfte ich wieder raus. Natürlich sehr witzig, wenn sie von draußen abgeschlossen hat. Außerdem war ich mir ja nie einer Schuld bewusst. Kekse sind zum Naschen da, oder? Ist doch nicht meine Schuld, wenn die offen herumstehen.

Ich taste mich vorwärts. Es muss doch möglich sein, herauszubekommen, wie groß dieses Zimmer ist. Meine Schritte hallen. Fünfzehn, zwanzig, dreißig – ein Saal? Wesselmeyer, reiß dich zusammen, mit wem hast du gestern gesoffen? War ich überhaupt trinken? Vermutlich saß ich bis in die Puppen im Labor und habe Statistiken ausgewertet, weil … ja, zumindest das weiß ich wieder: Heute geht der neue Beschleuniger in Betrieb. Jahrelang haben die hohen Herren Wissenschaftler an dem kilometerlangen Teil herum getüftelt. Die besten Ingenieure des Kontinents haben es zusammengeschraubt und heute, genau acht Uhr dreißig wird eingeschaltet. Erst Abschnitt A, dann Abschnitt D, dann B und zum Schluss Abschnitt C. Warum man die Abschnitte nicht in der richtigen Reihenfolge benannt hat, konnte mir nicht mal der Schulzhofer erklären. Nach dem Einschalten geht’s los: In dreißig Minuten von plus zwanzig auf minus 10 Grad und immer weiter im Stundentakt, bis zum absoluten Nullpunkt. Protonen werden durchgejagt und wir schauen, was passiert. Ich selbst bin nur ein kleines Licht. Aufarbeiten der ersten Analysen, Diagramme erstellen, pipapo. Zum Glück haben die mich da nicht eingesperrt. Darin herrscht ein kakophonischer Radau. Dagegen bin ich fast so allergisch wie gegen diese gnadenlose Stille.

Zum großen Sekt-Anstoßen werde ich wohl nicht pünktlich sein. Bestimmt schon zweihundert Meter gelaufen und noch immer kein Ende. Eine elend lange Höhle. Immerhin, an den Seiten kommt man schon nach ein paar Schritten nicht mehr weiter. Rechts und links wölbt sich der Boden und geht nahtlos in die Wand über. Welcher Verrückte baut so ein Zimmer, noch dazu in dieser Größe?

Langsam, ganz langsam verschwinden wenigstens die Kopfschmerzen. Liegt wahrscheinlich daran, dass es jetzt hier etwas kühler geworden ist. Immerhin wird der Kopf klarer. Genau: Gestern war doch diese Party vom Schulzhofer, jaja, Professor Schulzhofer. Hat einen auf Kumpel gemacht und alle ins beste Hotel der Stadt geladen. Hab ich mich da so besoffen? Hoffentlich hab ich nichts gemacht, was ich heute bereuen würde. Etwa von den Keksen genascht. Ob mich die Kellner in den Weinkeller geworfen haben?

Ich setz mich erst mal. Halleluja, jetzt wird’s wirklich frisch. Der Boden ist schon eiskalt. Ich in meinem dünnen Hemd. Und so eine Krawatte hält auch nicht eben warm.

Also besser weiterlaufen, durch die dunkle kalte Brühe tasten, irgendwann muss ja mal ein Ausgang kommen, wenigstens ein Notlicht oder Gullydeckel.

Als Kind bin ich irgendwann schlauer geworden. Weil ich ja wusste, dass ich früher oder später wieder in der Kammer landen würde, hab ich dort eine Taschenlampe und einen Comic versteckt. So konnte ich in Frieden von den Keksen naschen und hatte trotzdem eine schöne Zeit.

Jetzt weiß ich wieder, dass ich keinesfalls randaliert habe. Nach der Party bin ich nämlich noch zu Eckehart, den mit den karierten Hemden und dem tollen Schlafzimmer. Er selber war natürlich nicht da, nur seine Frau. Aber wer ist am vierten Advent schon gern allein?

Das Praktische am Verhältnis mit der Braun ist, dass die ihre Wohnung unmittelbar neben dem Institut haben. Nur ein paar Schritte und schon ist man in einer komplett anderen Welt. Ob der Braun weiß, dass ich regelmäßig an seine Keksdose gehe und mich danach in meine Kammer verziehe?

Meine Finger zittern, während sie die Wände nach einer Unebenheit abtasten. Ergebnislos. Ich friere, bestimmt habe ich schon blaue Lippen. Wenigstens heißt das, dass ich in die richtige Richtung laufe. Draußen sind schließlich um die minus 5 Grad. Hoffentlich bin ich in der Nähe des Instituts. Da kann ich mich auf der Toilette frisch machen und niemand wird merken, dass ich total verspätet bin.

Ich kann nicht mehr richtig denken. Was hab ich bloß gemacht, als ich von der Braun weg bin? Hab ich mich verlaufen? Ich kann mich nicht erinnern, mich angezogen zu haben, ja nicht einmal daran, wie ich die Braun ausgezogen habe. Filmriss.

Jetzt kommen die Kopfschmerzen wieder. Irgend etwas summt nun, aber eine Kamera ist das nicht. Da hinten flackert doch etwas. Jetzt fällt es mir wieder ein: Die Braun lässt mich in die Wohnung und ins Schlafzimmer gehen wir auch, und wie weiter?

Das Flackern wird nun langsam zum Licht, schwierig, sich nach der langen Zeit daran zu gewöhnen. Es wird immer greller, ich kann nichts erkennen. Auch das Brummen wird kräftiger.

Plötzlich stand die Braun da. Sie schreit. Etwas knallt auf meinen Hinterkopf. Grünes Flaschenglas splittert. Ich sehe Sterne und denke: Sind doch noch zwei Wochen bis Silvester. Danach ist Ende.

So, Wesselmeyer, jetzt versuch mal, vorsichtig die Augen zu öffnen. Was ist das? An der Decke Röhren, Kabel, Geräte… Im Herbst hatte Braun, der Angeber, eine Führung durch den Beschleuniger für die unteren Chargen organisiert, weil er als einziger von uns den Code fürs Rein- und Rauskommen kennt. Ich Idiot! Es waren die Bauarbeiten, die den Radau verursachten. Da hinten, da geht doch eine Gestalt und drückt ein paar Hebel. Kariertes Hemd. Hey, Braun, verdammt warte!

Mutter kam meistens nach etwa einer halben Stunde, um die Holztür aufzuschließen. Hier gibt’s nur meterdicke Stahlwände und nicht mal eine Kamera. Braun verschwindet. Die Dunkelheit kehrt zurück. Das ist Abschnitt C, eingeschaltet um acht Uhr fünfundvierzig. Morgen werden hier minus 270 Grad herrschen.

Ich werde nie wieder von den Keksen naschen, Mama.

(2009)

Print Friendly, PDF & Email