Wut zum Fliegen

dackelIn einer leeren Wassertonne am Rande der Kleingartenkolonie „Dresden II“ lebte ein mutterseelenallein ein dreibeiniger Dackel und langweilte sich seit fünf Jahren fürchterlich. Eines Tages besuchte ihn ein fieser Spatz und sprach: „Hallo drei­beiniger Dackel, möchtest du fliegen lernen?“ Der Dackel sagte „Klar. Kannst du es mir etwa beibringen?“ Da meinte der Spatz: „Nö, aber die rotfedrige Krähe am anderen Ende der Stadt. Hauptsache, du bist wütend genug.“

Der dreibeinige Dackel verstand nicht, warum er Wut zum Fliegen brauchte, doch kroch er aus seiner Tonne und spazierte zur Krähe. Die sagte spitz: „Tja, mein Lieber, da hat dir der Spatz schönen Blödsinn erzählt. Ich bin keine Krähe, sondern ein verzauberter Schulranzen. Und wenn du mich küsst, kann ich fliegen und bin die glücklichste Mappe von allen. Außerdem möchte ich gern dein Freund sein, denn ich bin so allein auf der Welt.“

Der Dackel überlegte, ob sich das Küssen lohnte. Er dachte, dann will ich den ganzen Weg wenigstens nicht umsonst gegangen sein, und küsste die rotfedrige Krähe. Tatsächlich verwandelte sie sich in einen blauen Schulranzen und segelte lachend davon. Der Dackel war trotzdem etwas sauer und wollte eben nach Hause trotten, da tauchte der fiese Spatz wieder auf. „Hallo drei­beiniger Dackel. Möchtest du immer noch fliegen lernen?“ Der Dackel nickte verdrießlich. So antwortete der Spatz: „Dann breite die Flügel aus und hebe ab.“

„Und woher nehme ich die Flügel?“, gab der Dackel genervt zu bedenken.

„Keine Sorge“, beruhigte ihn der Spatz. „Suche am Südpol den schwerhörigen Pinguin.“

Der Dackel wanderte los. Er zog durch Wüsten, kletterte über Berge, schwamm kilometerweit durchs Meer, bis er entkräftet am Südpol ankam. Dort fragte er ein paar Walrosse, die ihn den Weg zu einer abgestürzten Boeing 747 wiesen. Darin lebte der schwerhörige Pinguin. Er sprach: „Wenn du Flügel haben möchtest, musst du auf einem Bein fünfmal um das Flugzeug hüpfen. Außerdem möchte ich gern dein Freund sein, denn ich bin so allein auf der Welt.“ Der Dackel tat wie ihm geheißen, doch als er das fünfte Mal an der Flugzeugtür ankam, war der schwerhörige Pinguin verschwunden. Statt seiner schaute der fiese Spatz heraus. Der Dackel war ziemlich gereizt, aber der Spatz sprach: „Hallo, dreibeiniger Dackel. Möchtest du etwa immer noch fliegen lernen?“

„Logisch“, gab der Dackel schnippisch zurück. „Was hast du noch auf Lager?“

„Schnapp dir die Flügel der Boeing und flieg los.“

„Blödmann, die sind doch viel zu schwer zum Fliegen“, maulte der Dackel und wollte nach ihm schnappen.

„Macht nichts“, beruhigte ihn der Spatz und zog sich ein wenig zurück. „So trage sie auf deinem Rücken zum höchsten Berg der Erde. Dort lebt die uralte Walnussfrau. Sie wird dir helfen, die Flügel zu bedienen.“

Der Dackel montierte mürrisch die Flügel ab und band etwas Schnur darum, damit sie auf der langen Reise keinen Schaden litten. Als er am Ufer ankam, setzte er sich auf die Flügel und paddelte übers Meer. Während er sich durch die Große Wüste schleppte, dienten sie ihm als Schutz vor den Sandstürmen. In den Bergen legte er die Flügel über die Schluchten und sie waren ihm eine Brücke. Nach siebzehn Monaten und drei Tagen erreichte er äußerst schlecht gelaunt den höchsten Punkt der Welt. Ein Eissturm umtoste ihn, doch unter den Boeing-Flügeln konnte er sich verstecken. Nach sieben Stunden legte sich das Getöse und eine strahlende Sonne schien über die kargen Gipfel. Dort stand die Hütte der uralten Walnussfrau inmitten des ewigen Eises. Daneben saß ein Hirte im Schnee und spielte Mundharmonika. Die Frau kam aus ihrer Hütte gehumpelt. Alles an ihr war rund: der Kopf, der Körper, sogar ihre Beine, so schien es. Hinter den runden, deckeldicken Brillengläsern starrten zwei schwarze Augen den Dackel an. Die uralte Walnussfrau kaute auf etwas herum und mümmelte: „Ich hörte, der fiese Spatz schickt dich.“

„Ich selber schicke mich“, widersprach der durchgefrorene Dackel. „Der Spatz hat mir nur den Weg gewiesen. Er behauptet, du könntest mir das Fliegen beibringen.“

„Da hat er Recht“, sagte die Frau. „Höre gut zu, dann ist es ganz leicht. Außerdem möchte ich gern deine Freundin sein, denn ich bin ganz allein auf der Welt.“

Sie begann, unverständliche Sätze zu murmeln. So sehr der Dackel sich auch mühte, er verstand leider kein einziges Wort.

Selbst als die uralte Walnussfrau die Anweisung wiederholte, bekam der Dackel nichts mit. Beleidigt drückte sie ihm eine Walnuss in die Hand und verkroch sich in ihrer Hütte. Der Dackel drehte sich um. Der fiese Spatz stand vor ihm.

„Hallo dreibeiniger Dackel, hast du noch nicht genug?“

„Jetzt bin ich so weit durch die Welt gezogen“, erwiderte der Dackel störrisch, „nun will ichs endlich wissen. Sag mir, wie das blöde Fliegen geht!“

„Ich kann dir leider nicht helfen. Wenn du es nun noch nicht kannst, wirst du es nie und nimmermehr lernen und musst dich auf ewig in deiner Tonne verkriechen und langweilen. Darf ich trotzdem dein Freund sein? Ich bin so allein auf der Welt.“

Da sprang der Dackel wütend auf den Spatz zu, doch der flatterte geschickt zur Seite. Dem Dackel hingen zwar die schweren Boeing-Flügel am Rücken, aber er wollte nur noch den fiesen Spatz schnappen. Der Vogel entwischte und zappelte kichernd vor seiner Nase herum. Mit immer größeren Sätzen verfolgte ihn der Dackel, bis der Spatz schließlich in einer breiten Gletscherschlucht verschwand und der Dackel blindlings folgte. Viel zu spät merkte er, dass er den Boden unter seinen drei Füßen verloren hatte und in aberwitzigem Sturz auf den zackigen Grund zusteuerte. Schneller und immer schneller näherte er sich dem drohenden Aufschlag. Unten lauerten spitze Eiszacken darauf, ihn aufzuspießen.

Nein, dachte er bei sich, so einfach sollen die mich nicht reinlegen. Er begann wild mit den Flügeln zu rudern, doch er verlor immer mehr an Höhe. Vor ihm tauchte der fiese Spatz auf und streckte die Zunge heraus. Wütend wedelte der dreibeinige Dackel mit den Boeing-Flügeln und plötzlich geschah das Unglaubliche: Langsam, aber stetig begann er zu steigen, höher, noch höher. Atemlos rettete er sich auf die Hochebene.

Oben erwartete ihn der Spatz und grinste.

„Siehst du“, sagte er, „Jeder kann fliegen lernen. Egal, welche Flügel er hat, wenn er es nur unbedingt will.“

Der Dackel aber, der immer noch sauer auf ihn war, sagte kein Wort, nicht einmal danke, breitete die Flügel aus und flatterte nach Hause.

Dort warf er die Flügel auf den Komposthaufen, steckte die Walnuss in die Erde und verzog sich in seine Wassertonne, wo er sofort damit begann, sich mit aller Kraft zu langweilen.

Eine Woche später besuchten ihn der fiese Spatz, der blaue Schulranzen, der schwerhörige Pinguin und die uralte Walnussfrau mit dem Hirten.

„Wir wollten mal schauen, wie es dir geht“, sprachen sie. „Was macht die Fliegerei?“

Der Dackel zuckte mit den Schultern, drehte sich um und baute für jeden eine gemütliche Wassertonne. Nur der Hirte musste auf der Straße bleiben.

Es kommt darauf an, nicht allein zu sein. Dann kann man auch fliegen, wenn man es braucht, selbst wenn man ein Dackel ist und nur drei Beine hat.

(2008)

 

Print Friendly, PDF & Email