Regen

regentropfenSeit einer Woche hungerte der magere Sindh-Sartha lotus-sitzend in seiner Grube bei Oranienburg.

Neben dem Erdloch des Inders stand ein Kofferradio. Der Wetterbericht versprach keine Neuigkeiten. 35 Grad, heiter, trocken. Der Sprecher konnte trotz der Sensation seine Langeweile nicht verbergen. Sechs Wochen hatte es in Berlin und Brandenburg keinen Tropfen geregnet. Die meisten Bauern hatten die Ernte sausen lassen und waren in den Urlaub geflohen. Wenn schon Pleite, dann mit Spaß.

Nachdem auf RTL-II live eine Kuh verdurstet war, konnte auch die Presse nichts Gescheites mehr aus dem Thema herausholen.

Nur Jonas T., ein flinker Zeitungs-Reporter, hatte den richtigen Riecher. In seiner Redaktion galt er als Spezialist für ungewöhnliche Männer. Wie er in diese Rolle geraten war, konnte er sich auch nach Jahren nicht erklären. Er hockte neben Sindh-Sarthas Grube und redete auf ihn ein.

»Wie lange wollen Sie in dem Loch bleiben?« fragte er.

»Gehen Sie fort«, sagte der Inder leise.

»Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?« bohrte Jonas weiter.

»Sie sollen gehen«, wiederholte Sindh-Sartha. »Sonst funktioniert es nicht.«

»Was funktioniert nicht?«

Schweigen war die Antwort.

»Ich gehe, wenn Sie sagen, warum Sie in dem Loch sitzen.«

Der sanfte Sindh-Sartha seufzte. »Das ist kein Loch, das sind die geweihten vier Wände.«

Na endlich, dachte Jonas und schrieb.

»Warten Sie auf Regen? … « Jonas überlegte. »Sie warten nicht auf den Regen, Sie wollen ihn machen, stimmt’s?«

Der Inder blieb stumm.

Jonas grinste. »Sie sind ein Guru, oder? Woher kommen Sie?«

»Lassen Sie mich allein«, antwortete Sindh-Sartha.

Jonas forschte: »Ist es wichtig, dass Sie allein sind? Funktioniert der Trick sonst nicht?«

»Trick!« fauchte der Inder schwach.

»Was ist es dann? Eine Beschwörung?«

»Gehen Sie endlich.«

Jonas rieb sich die Hände. »Guter Mann. Entweder Sie reden mit mir, dann erfährt vorher niemand etwas von Ihrem Vorhaben, oder ich veranstalte heute Abend an Ihren geweihten vier Wänden eine Mords-Pressekonferenz.«

Sindh-Sartha sah ihn misstrauisch an.

Jonas holte sein Handy heraus und winkte ihm damit zu. Der Inder drehte den Kopf fort.

Jonas suchte eine Nummer im Telefonbuch. Sindh-Sartha summte unruhig vor sich hin.

Der Reporter drückte den Wählknopf, lauschte kurz und sprach: »Hallo, Nina-Schätzchen, hör zu: Neben mir sitzt ein dünner Kerl in einem Loch und … warte mal. Ich ruf gleich noch mal an.« Sindh-Sartha hatte sich erhoben.

»Gut«, sagte er. »Fünf Fragen. Dann gehen Sie und lassen sich nicht wieder blicken.«

»Zehn«, antwortete Jonas.

»Sieben«, konterte der Inder und hielt die Hand hoch. Jonas schlug ein.

»Erste Frage: Woher kommen Sie und wie heißen Sie?«

»Ich komme aus einem kleinen Dorf in Indien. Ich heiße Sindh-Sartha Schulz. Jetzt die dritte Frage.«

»Sindh-Sartha Schulz?«

»Ja. Vierte Frage.«

»Warum sitzen Sie in der Grube? Es wäre nett, wenn Sie etwas ausführlicher antworten könnten.«

Ein leichtes Lächeln umspielte den Mund des Gurus. »Es ist meine Pflicht. Ausführlich genug?«

»Herr Schulz, so geht das nicht.« Jonas sprang auf. »Wer soll das lesen – der Inder Schulz sitzt in einem Oranienburger Loch, weil er es für seine Pflicht hält?«

»Antwort Fünf: Das ist mir gleichgültig. Sie sollten nicht so verschwenderisch sein mit Ihren Fragen.«

Der Reporter nahm Platz und sagte nichts. Eine Viertelstunde lang.

Sindh-Sartha wackelte hin und her. Dieser Schreibmensch sollte seine beiden Fragen stellen und gehen. Bald würde die Dämmerung hereinbrechen. Bliebe der Reporter hier, würde dies die Sache stark verkomplizieren. Sindh-Sartha mochte kein Risiko.

»Was wollen Sie noch wissen?«

»Ich muss überlegen«, sagte Jonas und schaute ihn an. Abwarten, dachte er. Was der kann, kann ich schon lange. Und Jonas schwieg, eine weitere Viertelstunde verging.

Die Baumspitzen am nahen Wald färbten sich dunkel. Der Himmel begann rot zu leuchten.

Der Guru merkte, wie ihm die Zeit davon lief. Bei Einbruch der Nacht musste er allein sein. Er wollte nicht in den gleichen Schlamassel geraten wie der Kollege, der neulich erstickt war. Ein Kompromiss musste her.

»Gut: Stellen Sie mir zehn Fragen. Aber tun Sie es jetzt und verschwinden endlich.«

Jonas grinste triumphierend. »Warum wollen Sie …«

Ein Brummen unterbrach ihn. Über dem Wald, der sich weiter verdunkelte, raste ein Hubschrauber heran. Als er nahe genug war, erkannte auch Sindh-Sartha, dass ein Seil daran baumelte, an welchem wiederum eine langhaarige, schlanke Frau sich festhielt.

»Nina!« rief Jonas. Ein paar Schritte von der Hütte entfernt, war sie dicht genug am Boden. Sie sprang hinab und lief zu den Männern. Unmittelbar danach kletterte ein bärtiger Hüne in Motorrad-Kluft mit einer Kamera ebenfalls am Seil und stürmte der Frau hinterher.

Der Guru schloss resigniert die Augen.

Jonas war aufgestanden und umarmte Nina freundschaftlich und skeptisch. »Was suchst du denn hier?«

Nina feixte. »Deine Redaktion wusste, wo du ungefähr steckst. Da brauchte ich nur noch den Hubschrauber und hier bin ich. Er heißt übrigens Harry«, ergänzte sie und zeigte auf den Kameramann.

»Das ist meine Story!« fluchte Jonas.

»Jetzt gehört sie mir auch.«

»Die Geschichte gehört niemandem. Außer mir«, ließ sich nun der Inder aus seiner Grube vernehmen.

Die Medienmacher hielten inne.

Der Inder hatte einen Entschluss gefasst. Drei ausgewachsene Presseleute konnte er nie vertreiben.

»Ich muss Sie bitten«, fuhr er fort, »mich jetzt einzugraben. Es wird dunkel.«

Jonas und Nina starrten sich ratlos an. Doch auch eine heftige Diskussion konnte den Inder nicht von seinem Wunsch abbringen. Er beharrte darauf, dass sie ihn vollständig eingraben müssten, weil sonst ein schrecklicher Fluch über das Land käme. Irgendwann waren Jonas und Nina am Ende ihres Lateins. Harry stellte fest: »Das ist wohl Zeitverschwendung. Wo gibt’s Schippen?«

»Hinter dem Haus«, antwortete Sindh-Sartha. »Bringen Sie bitte auch die Trompete mit, die dort liegt.«

Schulterzuckend stiefelte Harry los. Mit zwei großen Spaten und dem Instrument kehrte er zurück. Ein Werkzeug reichte er Jonas, die Trompete gab er dem Inder und seine Kamera drückte er Nina in die Hand. Schließlich sollte das Ganze sich auch lohnen.

Nina filmte. Als Sindh-Sartha bis zum Hals im märkischen Sand steckte, schaltete sie ab. Harry und Jonas wischten sich den Schweiß von der Stirn. Harrys Anteil an der Arbeit war deutlich größer gewesen, worum ihn Jonas heimlich beneidete.

»Sind Sie ganz sicher?«, fragte Jonas den Kopf des Gurus zum zwanzigsten Mal.

»Ganz sicher«, bestätigte dieser. »Und kommen Sie ja nicht auf die Idee, mich wieder auszugraben. Wir könnten es alle bereuen.«

Jonas holte Luft, doch Sindh-Sartha unterbrach ihn: »Erst wenn ich Trompete spiele, ist die Zeit herum. Machen Sie nun rasch, es wird Nacht.«

Jonas behielt die Frage, wie denn der Inder in all dem Sand Trompete spielen wolle, für sich. Die letzten fünfzehn Male, die er sie gestellt hatte, hatte er keine vernünftige Antwort bekommen.

Langsam verschwand Sindh-Sarthas Kopf unter der Erde. Mit mulmigen Gefühl schippten sie noch einen kleinen Hügel auf und setzten sich hin. Stockfinstere Nacht herrschte. Lediglich die Kontrollleuchten an der Kamera spendeten Licht.

Sie schauten sich an.

Schließlich fragte Nina: »Wie lange kann ein Mensch eigentlich ohne Luft leben?«

Jonas hob die Hände. »Weiß nicht. So ein Perlentaucher hält es wohl zehn Minuten unter Wasser aus.«

»Quatsch«, brummte Harry. »Höchstens vier Minuten. Steht im Internet.«

Er schaute auf die Uhr. Drei Minuten waren vergangen, seit sie die Schippen beiseite gelegt hatten.

Harry fragte: »Hast du es aufgenommen, Nina? Das letzte Mal war alles verwackelt.«

»Sind das deine ganzen Sorgen? Wir können froh sein, wenn der sich bald meldet. Sonst sind wir geliefert.«

»Das glaubt uns eh kein Mensch«, fügte Jonas hinzu.

Er zündete sich eine Zigarette an. Nina zog die Augenbrauen hoch. »Ich denke, du rauchst nicht mehr?«

»So ist es«, gab Jonas zurück.

»Dann reich mir auch eine.«

Nina schaute auf die Uhr. Sieben Minuten vorbei.

»Ich halte das nicht aus.« Sie sprang auf und griff zu einem Spaten. Harry hielt sie fest. »Du hast doch gehört, was er gesagt hat. Erst wenn er Trompete spielt.«

»Quatsch.« Nina riss sich los. »Der kann da unten nicht Trompete spielen. Der erstickt!« Sie begann zu graben.

Doch unter dem kleinen Hügel, den die Männer aufgeschichtet hatten, lag nur weitere Erde. Nina grub und grub. Sie fand nichts als immer mehr Sand.

»Wo ist der geblieben?« Nina hockte sich auf die Erde und heulte. Harry und Jonas griffen zeitgleich zur anderen Schaufel. Harry hatte sie eben Jonas entwunden, als beide innehielten.

Hinter der Hütte des Inders ertönte eine laute, unbeherrschte Stimme: »Ich sagte doch, dass Sie warten sollen!« Der Guru bog um die Ecke und schaute die verdutzten Medienmacher wütend an. »Was haben Sie nur angerichtet!«

»Wie konnten Sie denn da … Au!« Harry hielt sich die Stirn. Er suchte auf dem Boden, was ihm auf den Kopf gefallen war.

»Aua!« Auch Nina war von etwas getroffen worden. Sie blickte nach oben und bekam gleich noch etwas ab.

»Was ist das?« fragte Jonas und sah ebenfalls gen Himmel. »Au!«

Harry hob eine silberne Scheibe auf. »Eine DVD«, stellte er fest und las: »Pretty Woman – mit Julia Roberts und Richard Gere.«

»Die hier auch«, bemerkte Jonas. Auch Nina hielt eine in der Hand und nickte.

»Wo kommen die her?«

Der Guru hob die Hände in die Luft, als könne er so viel Unverstand nicht glauben. »Wo kommen die her, wo kommen die her! Vom Himmel natürlich! Hätten Sie nicht angefangen zu graben, wäre jetzt alles in Ordnung. Es würde Wasser regnen und das ganze Land wäre glücklich. Stattdessen regnet es jetzt dieses – dieses Zeug! Au!«

»Sie meinen«, vergewisserte sich Jonas, »in ganz Berlin-Brandenburg fallen jetzt Richard-Gere-DVDs vom Himmel?«

»Sicher! Warum haben Sie nicht auf mich gehört? Jetzt wird die ganze Sache natürlich noch umständlicher!«

»Können wir etwas tun, damit das aufhört?« fragte Nina. Sie steckte schon bis zu den Knöcheln in Pretty-Woman-Scheiben.

Der Guru schaute sie an. »Ich weiß nicht, ob Sie das wirklich wollen.«

»Nun machen Sie schon, sagen Sie es!« rief Jonas verzweifelt und schlug um sich. Der DVD-Regen schien stärker zu werden.

»Meine Aufgabe ist es«, begann Sindh-Sartha zögernd, »nicht nur Regen, sondern vor allem Liebe in die Welt zu bringen. Deshalb sehe ich noch eine Chance…«

»Los!« hetzte Nina. Waren bis eben nur die blanken Scheiben vom Himmel gefallen, gesellten sich nun die Verpackungen dazu, die weitaus schmerzhafter trafen.

»Sie müssen sich küssen und sagen: ‚Ich liebe dich’«, erklärte der Guru.

»Das geht dann wohl doch zu weit!« protestierte Nina. »Hast Du dir das ausgedacht?« schnauzte sie Jonas an.

»Verstehen Sie denn gar nichts?«, unterbrach Sindh-Sartha sie. »Nur wahre Liebe kann … ah!« Der Guru sank ohnmächtig zu Boden. Ein Paket mit 20 De-Luxe-Ausgaben hatte ihn hart an der Schläfe getroffen.

»Herr Schulz!« Jonas stürzte auf ihn zu. Doch seine Augen blieben geschlossen. »Verdammt, was machen wir jetzt?«

»Am besten, ihr tut erst mal, was er gesagt hat«, mischte sich Harry ein und wich geschickt einem 50-Exemplare-Vorteilspack aus. »Sonst geht das ganze Land im ‚Pretty-Woman’-Tsunami unter.«

Nina ging vorsichtig auf Jonas zu. »Herrje, dann lass es uns hinter uns bringen. Hoffentlich nützt es was.«

Mit unbeteiligten Mienen drückten sie ihre Lippen aufeinander und wandten die Blicke ab. »Ich liebe dich«, sagte Harry.

»Was?« fragte Jonas.

»Du sollst noch sagen: Ich liebe dich, sonst wirkt es nicht.«

»Ich liebe dich«, sagte Jonas gleichgültig.

Der Niederschlag ließ ein bisschen nach. Dennoch wuchs der Berg zu ihren Füßen immer weiter.

»Wir müssen den Guru wecken. Hier stimmt was nicht.« Jonas gab dem Alten ein paar Backpfeifen, die nichts halfen.

»Lass mich mal«, meinte Nina und kniete sich schwungvoll auf den Brustkorb des Liegenden.

»Du bringst ihn ja um!« schrie Harry. »Er ist doch nur bewusstlos! Hier, reib ihm das unter die Nase. Ist „Mystery for Men“.«

Nina wedelte mit der Parfüm-Flasche vor der Nase des Inders. Verwundert schlug dieser schwach die Augen auf.

»Richard Gere regnet noch«, flüsterte er. »Sie sollen küssen … küssen …« Erneut versank er in der Ohnmacht.

Harry sagte: »Ich hab mal gelesen, dass der Regen sich in Wasser hätte verwandeln müssen und die Küssenden einander in Liebe verfallen. Ihr wäret bis ans Ende eurer Tage glücklich. Probiert es doch noch mal!«

»Keinesfalls!« kam es wie aus einem Munde von Jonas und Nina.

Harry überlegte weiter. Was wäre wenn…?

Die Bewunderung des Reporters Jonas für den Kameramann Harry stieg. Jonas seinerseits dachte: ‚Was der alles weiß, Hut ab. Mit dem sollte ich auch mal ein Interview führen.’

Harry unterbrach seinen Gedanken. »Vielleicht wollte der Guru ja, dass ich…«, fragte er ruhig.

»Nein!!!« Ninas Augen funkelten wütend, als wären sie Doppel-DVDs. »Ich bin doch keine Küssmaschine.«

»Das meinte ich auch nicht«, sagte Harry vorsichtig.

Nina atmete erleichtert auf. Dann blieb ihr der Mund offen stehen.

Jonas grinste noch über den Vorschlag, ehe seine Mundwinkel zu Boden fielen.

Nina rief: »Natürlich! Los, los – mach schon!«

Jonas verharrte begriffsstutzig. »Was soll ich machen?«

»Küss ihn und sage ‚Ich liebe dich.’«

»Ihn?«

»Ja, mich, du Hornochse«, sagte der bullige Kameramann und trabte auf Jonas zu.

Er nahm ihn in den Arm und küsste ihn. »Ich liebe dich.«

Es fielen noch ein paar Richard Geres und Julia Roberts’ vom Himmel. Doch weil Harry Jonas nicht wieder loslassen wollte, und Jonas auch Harry immer noch fester hielt, verwandelte sich der Rest der Scheiben in klares Regenwasser. Irgendwie – Jonas konnte es sich nicht erklären – fühlte sich alles richtig an. ‚Harry‘, dachte er, ‚endlich.‘

Harry dachte … gar nichts. Routiniert und gefühlvoll hielt er Jonas im Arm und streichelte ihn zärtlich. Der glänzende Boden, auf dem das Paar stand, schwankte, schmolz schließlich dahin und versank in der Tiefe des Erdreichs.

Der Guru aber erhob sich und spielte das schönste Trompetensolo, das Berlin und Brandenburg gehört hatten.

Und wenn sie nicht gestorben sind sitzen sie bis heute vor dem Fernseher und schauen »Pretty Woman«.

( etwa 2005)

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