Kaum jemand hat sich je die Mühe gemacht, sich meinen Namen zu merken. Die Leute im Dorf nannten mich „Hans’ kleine Schwester“. Dabei ist mein Name gar nicht so schwierig. Der Alten habe ich ihn absichtlich nicht verraten. Sie ruft mich „Mädchen“, so wie jetzt. Ich aber bleibe in meiner Kammer sitzen.
Sie denkt, ich höre sie nicht, dabei schallt ihre hohe Stimme sicher meilenweit durch den Wald. Ruf und verfluch mich.
Du wirst mich kennenlernen. Das dumme fünfzehnjährige Blondchen, das dir seit drei Wochen die Stube fegt, das Klo putzt und die stinkenden Klamotten hinterher räumt, wird dir beibringen, dass drei Wochen mehr sein können als ein ganzes Leben. Mein Name soll das letzte sein, das du in diesem Leben hörst.
Dass alle Welt mich für ein braves Mädel hält, war schon immer von Vorteil. Bin ja nichts anderes. Bin nicht schuld an der Hungersnot. Habe nicht die Eltern gebeten, uns fortzujagen.
Bösartige Menschen – die mit dem besonderen Blick für die Wahrheit – würden sagen, ich hätte daheim einmal zu oft von Schulzens Peter erzählt, der spurlos verschwand und von dem es hieß, er sei im Walde verschollen.
Groß ist der Wald. Es gibt versteckte Ecken, dunkle abgründige Höhlen, die niemand je gesehen hat. Bis auf das Mädchen, das jeden Tag länger als andere beim Beerenpflücken verbracht hat. Und Peter, der zum Sterben aufdringlich war. Meinen Namen konnte er sich nicht merken. Dass ich mich nicht von jedem anfassen lasse, hat der Depp erst verstanden, als er zwanzig Meter freien Fall vor sich hatte.
Mutter und Vater wissen nichts davon. Sie glauben wie alle, Peters Eltern hätten ihn ausgesetzt. Lachhaft. Nützlich.
So fiel ihnen von selbst ein, dass in unserer Familie zwei Mäuler zu viel zu stopfen wären. Einfache Rechnung: Zwei Kinder im Wald macht zwei Esser weniger. Da kommt sogar Mutter drauf.
Eine Frage der Zeit, bis mein geliebtes Brüderlein belauschte, was sie vorhatten. Ein paar Tränen von mir und er konnte der Held sein. Mein Held. Mein großer, göttlicher Bruder, der immer eine Lösung findet. Der jeden versteht und mit allen gut Freund ist. Der einem alle Wünsche von den Augen abliest, bis auf den einen, den niemand erfahren darf. Nicht einmal er – noch nicht. Aber bald, mein teurer Liebling, bald sind wir zusammen, wie es bestimmt ist.
Wäre nicht die Alte dazwischen gekommen, hätte unser neues Leben längst begonnen. Eine Hütte mitten im Wald, wer kommt denn darauf? Hübsch mit Vorgarten, Apfelbaum und riesigem Backofen hinterm Haus. Brüderchen fand es romantisch, der kleine Träumer. Wenn ich es recht bedenke, vielleicht sogar die ideale Bleibe für uns, für danach. Freiwillig lässt die Alte uns keinesfalls ziehen. Ich sehe doch, wie sie ihm schöne Augen macht, und dabei doppelt so alt ist wie er. Bestimmt fast vierzig.
Kann mir keiner erzählen, dass er sich nicht von ihr herumführen lässt. Von wegen, zeig mal dein Fingerlein. Ich wette, die ist schon öfter in seinen Verschlag gehüpft, um eigenhändig zu prüfen, ob da nicht mehr dran ist an ihm.
Ist es. In einem armen Elternhaus gibt es für zwei Kinder nur ein Bett, da kommt man sich schon näher. Natürlich nie nahe genug. Hat sich immer brummend weggedreht. Aber wenn wir erst die Hütte für uns haben, werde ich ihn schon umstimmen. Ich weiß besser als jede, was er braucht. Besser als die Alte.
Noch ein paar Schritte, dann ist sie bei meinem Zimmer. Ich kann hören, wie sie hinkt. Sieht man kaum, aber wenn sie die drei Stufen vor dem Haus hinunter geht, hält sie sich am Geländer fest. Und was hat sie für einen Aufstand gemacht, als nach dem Sturm ein paar Äste auf dem Weg lagen. Die Knochen brechen könne man sich, hat sie gesagt.
Wart‘s nur ab, Alte. Du weißt noch nicht, wie es vor dem Backofen aussieht. Heute ist Backtag. Hat sie gestern angedroht, und ich warte schon so lange drauf. Seit letzter Nacht liegt ein Haufen Steine und schmieriger Lehmklumpen davor. Wird ihr nicht gefallen, die Rutschpartie. Dann braucht sie nur noch einen kleinen Schwung und liegt drin. Danach habe ich mein Brüderchen endlich für mich.
Jetzt stößt sie die Zimmertür auf. Sie scheint wütend zu sein. Gleichzeitig lächelt sie. Merkwürdige Mischung. Ich komme ja schon. Es kann ihr nicht schnell genug gehen. Wenn die wüsste. Mit gesenktem Kopf folge ich ihr.
Da steht er, der Ofen. Wo ist das Holz, das ich gestern hacken musste? Der Ofen ist warm. Hat sie mal etwas allein gemacht? Verdammt, ist das glatt hier. Hätte wohl sparsamer mit dem Lehm sein sollen. Wo ist die Alte? Hinter mir, wieso hinter mir? Das ist falsch herum. Jetzt bin ich auch noch umgeknickt.
Sie hat mich gestoßen! Ich bin … es ist so warm hier drinnen … so heiß … eng … Luft … ich brauche Luft … ich bin doch … Brüderchen, hilf mir.
( 2013 )