Das Märchen vom Mädchen, das nur ein Haar hatte (Auszug)

hochhausEs war einmal ein Mädchen, das hatte nur ein Bein, einen Arm und ein Haar. Es wünschte sich nichts sehnlicher auf der Welt als volles wallendes Haar.

Als das Mädchen alt genug war, um allein mit der S-Bahn zu fahren, fuhr es zu einer Hexe, die in einem alten Plattenbau am Rande der Stadt hauste. Sie war gerade sechs Stationen gefahren, da stieg ein junger Kontrolleur hinzu. Das Mädchen schaute ihn ganz traurig an und sagte: „Lieber Kontrolleur, ich bin so arm, und habe nur ein Bein, einen Arm und ein Haar, da konnte ich mir keine Fahrkarte kaufen. Aber ich will zur alten Frau Hübner, die soll mir schöne Haare hexen.“

Den Kontrolleur dauerte das Schicksal des Mädchens und sprach: „Das finde ich sehr schade, doch leider musst du trotzdem aussteigen. Aber versprich mir, dass ich dich zu einem Eis einzuladen darf, sobald du deine schönen Haare hast. Wenn du auf der Rückfahrt immer noch nur ein Haar hast, so muss ich dich leider der Polizei melden.“

Damit war das Mädchen einverstanden. Es hüpfte den Rest der Strecke und kam am späten Abend zu dem Hochhaus, wo die alte Hexe lebte. In einem verwahrlosten Fahrstuhl fuhr das Mädchen in den drei mal siebten Stock hoch. Es staunte nicht schlecht, als es aus dem Fahrstuhl trat. Frau Hübner hatte selbst wunderschöne blonde Locken, die ihren Kopf über und über bedeckten, auf ihre Schultern herabrieselten und noch den halben Rücken herunter fielen.

„Soso“, sagte die Hexe, nachdem sie sich an ihren Schreibtisch mit dem Laptop gesetzt hatte. „Was gibst du mir, wenn ich deinen Wunsch erfülle?“

„Ich würde dir alles geben, was du möchtest“, erwiderte das Mädchen. „Aber ich habe nur ein Bein, einen Arm und ein Haar.“

„Dann musst du mir das Haar geben“, forderte die Hexe. Das Haar auf dem Kopf des Mädchen hatte nämlich Zauberkräfte und erfüllte demjenigen, der es besaß, alle Wünsche bis auf den sehnlichsten. Dies wusste die Hexe, aber sie verriet es dem Mädchen nicht. Also sagte das Mädchen ja.

Die Hexe fragte weiter: „Was für Haare möchtest du denn haben?“

„Genau solche schönen blonden Locken wie du“, sagte das Mädchen.

„Nun, das wird aber schwierig. Dafür musst du mir einen weiteren Gefallen tun. Im Keller dieses Hauses lebt ein seltsames Tier. Es sieht aus wie ein Kater, doch es kann sprechen. Ich muss es unbedingt haben, aber es lässt sich nicht fangen. Bringe es mir und ich werde deinen Wunsch erfüllen.“

Das Mädchen versprach, der Hexe den Kater zu bringen und fuhr mit dem Fahrstuhl hinab. Als sich unten die Türen öffneten, strahlten sie tatsächlich schon zwei grüne Augen an.

„Was willst du?“ fauchte der Kater. „Dich habe ich noch nie hier gesehen.“ Hinter dem Mädchen schlossen sich die Fahrstuhltüren und sie stand in völliger Dunkelheit.

(2008)

Den kompletten Text kann man in meinem Buch „Am Donnerstag hat Gott Geburtstag“ lesen.

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