Die allererste Kolumne – „Dienstleister“ von 25.10.1999

Boomtown – Die Montagskolumne aus Berlin

Nummer 01/1999 vom 25.10.1999

Als ich mich am Sonntagnachmittag daran setzte , diese Kolumne zu schreiben, benötigte ich vier Anläufe: Der erste handelte vom Herbstwetter, der zweite von dem, was man am Wochenende alles nicht getan hat, der dritte von einem Fahrrad an einem Bauzaun, welches neben einer offenen Flasche italienischen Rotweins stand und der vierte schließlich begann mit Gedanken über den , Stinosphilosophischen Tiefsinn von Jo-Jos. Vielleicht wären dies alles spannende Texte geworden, möglicherweise werden es sogar noch welche, aber nach all den erfolglosen Versuchen zog es mich noch einmal aus der Wohnung. Die besten Geschichten finden sich ohnehin auf der Straße. Was geschehen musste, geschah.
In Berlin-Pankow, an der Kreuzung Breite Straße/Berliner Straße, besser als „Pankow Kirche“ bekannt, existiert das Restaurant-Bistro-Pub „Ei“. In spätestens zehn Jahren wird es prima als 80ies-Kult-Location eine Renaissance erleben, falls es nicht von einem der in Pankow seltenen Erdbeben verschlungen wird. Bis dahin werden sich dort am Nachmittag die älteren Damen bei Kaffee und Pflaumenstreusel vermehren, während des Abends zwielichtige Stinos die verkorkste Kreuzung im Auge behalten. Die Besatzung des Cafés tut auch alles dafür, dass sich daran nichts ändert, also beispielsweise neue Kundschaft sich den Laden erobert. Die Probe aufs Exempel machten Annelie und ich. Gegen 16.00 Uhr hatten zwei Tantchen ihren Kaffee-Plausch beendet und gingen zum Eierlikörchen-Trinken in ein anderes Etablissement, sodass ihre Plätze für uns frei wurden. Es dauerte auch keine zehn Minuten, bis der Kellner unsere Bestellung aufnahm. Die Bedienung im Restaurant-Bistro-Pub „Ei“ trägt weiße Hemden und eine rote Schürze, auf welchselber Werbung für Hasseröder Pils prangt. Bei Anblick des Kellners wurde somit sofort ein ganzer Assoziationskreis geschlossen: Hasseröder Pils – Boxen – Axel Schulz. Perfekt. Wir wurden vom Gewinner des „Axel Schulz‘- jüngerer-Bruder-Lookalike“-Wettbewerbs bedient. Die Bestellung, Capucchino, Milchkaffe, Pflaumenstreusel (wer sagt, dass dies ein Alte-Damen-Privileg ist?) und darüber hinaus eine Portion Spiegel-Ei. Annelie hatte noch nicht gefrühstückt.
Getränke und Kuchen waren schnell gebracht, was noch fehlte, war das Ei. Des langen Wartens kurze Beschreibung: Es dauerte geschlagene 45 Minuten, ehe die Bestellung sich vollständig auf unserem Tisch wiederfand. Nicht, dass das Ei vergessen worden war. Oder die Küche explodiert und neu aufgebaut werden musste. Bruder Schulz fehlten die Worte zu Erklärung oder gar Entschuldigung. Die einzige Bemerkung in dieser Richtung, die aus seinen Lippen strömte, war: „Kommt gleich.“ Und auf Nachfrage: „In … (Blick zur Uhr) … anderthalb Minuten.“ Nun denn, uns fehlten auch die Worte. Im Grunde blieben sie uns nachgerade im Halse stecken, als er, nachdem wir um die Rechnung gebeten hatten, mit dieser wedelnd heranschwebte (Axel Schulz schwebend!): „Und … wer bekommt die Schuld?“ Sprachlos zahlten wir 17,90 DM auf den Pfennig genau und entschwebten unsererseits.
Folgende Fragen taten sich auf: Zugegeben, es herrscht eine hohe Arbeitslosigkeit in diesem Lande, sicher auch in Pankow. Aber warum, in Teufels Namen, ist jemand in einem Job tätig, für den er so offensichtlich ungeeignet ist? Ich werde doch auch nicht Gewichtheber. Wieso ist es so schwer, wenigstens die Standard-Ausreden abzuspulen. („Das hat solange gedauert, weil der Ebola-Virus die halbe Mannschaft hinweggerafft hat.“) Ganz zu schweigen davon, dass es einem Kellner von Herzem leid tun sollte, wenn er schlampig mit Geduld und Zeit seiner Kunden umgeht. Aber warum sollten Kellner anders sein als der ganze verkommene Rest der Dienstleistungsbande. Keinem Berliner Taxifahrer ist es peinlich, wenn er die Strecke nicht kennt. Keine Supermarktkassiererin kümmert sich darum, was mit den Waren geschieht, die sie torpedogleich über das Band schickt. Ganz zu schweigen von der U-Bahn-Fahrerin, die sturzbetrunken in ihrer Kabine zusammenbrach, nachdem sie in mehreren Stationen den Zug nur halb in den Bahnhof gebracht hatte. Erst ein Fahrer im Gegenzug bemerkte die leblose Frau. Warum lassen wir uns dies alles gefallen? Warum geben wir unter Umständen sogar noch Trinkgeld für Frechheiten?
Die Antwort ist einfach: Weil wir genauso sind. Wir alle sind betrunkene U-Bahn-Fahrer. In Wirklichkeit sitzt niemand von uns im Gegenzug.
Eine schöne Woche noch wünscht Leovinus.

(erschienen 1999 im Forum von www.berlinerzimmer.de)

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