Weihnachten bei Müllers

Erik und Rolf

Weihnachtsmann Erik sortierte Wunschzettel in seinem klitzekleinen Büro.

„Reichlich spät“, murmelte sein Gehilfe, der in einem ausgeleierten Sessel vor der Tür fläzte.

„Wieso? Ist der 23. Du marschierst mit den Zetteln ins Lager und ab geht die wilde Fahrt.“

Der Gehilfe, irgendetwas zwischen Elf, Engel und Junkie, grummelte. Er zündete sich eine Zigarette an. „Wonach sortierst du da?“

„Das sind die Stapel ‚Unverschämt‘ und ‚Absolute Frechheit‘. Die ignorieren wir. Der hier ist ‚Spenden für karitative Zwecke‘. Auch nichts für uns.“

„Mickrig“, meinte der Gehilfe. „Und der ganz kleine, der gleich vom Tisch fällt?“

„Die realistischen. Da haben wir … drei, vier, fünf … zehn.“

Der Elfjunkie, dessen Namen niemand kannte, von dem Erik aber glaubte, dass er Rolf hieße, nickte.

Erik nahm das nächste Blatt. Er erstarrte. „Verdammte Schneeflocke! Jetzt reicht’s aber …“

Das Telefon klingelte. Erik wühlte sich durch Stapel von Papieren, Landkarten und Plätzchendosen. Er grabschte nach dem Handy.

„Weihnachtsmann 3-27x, Erik, Berlin Nord und umliegende Grafschaften.“ Er zwinkerte Rolf zu. Dann erstarb das Grinsen. „Ja, Chef. Sorry, Chef … alte Gewohnheit … nein, ich wollte nicht … Bin gleich da.“

Erik wuchtete sich hinter dem Schreibtisch hervor, scheuchte Rolf hoch, der seinen Sessel beiseite schob, um Erik durch die Tür zu lassen. „Koch mal Kaffee. Ach, den hier nehm ich mit.“ Er griff nach dem letzten Wunschzettel.

Das Büro des Chefs der Unchristlichen Weihnachtsbehörde, Unterabteilung 47c, hatte die Ausmaße eines Fußballfeldes. So kam es Erik jedenfalls vor. Rolf meinte, es sei kaum größer als eine Turnhalle. Es hieß, das fußballfeldgroße Büro gehöre Weihnachtsmann Eins-A, den noch nie jemand gesehen hatte und dessen Existenz daher allgemein angezweifelt wurde.

Eriks Chef stand hinter seinem Schreibtisch. „Wie du weißt“, begann er. „wurde uns erneut das Budget gekürzt.“ Erik interessierte dergleichen nicht. Keine Digitalisierung konnte Weihnachtsmänner überflüssig machen. „Wir müssen hier umstrukturieren. Eins-A will eine Sondertruppe für Wasweißich aufstellen. Dein Gebiet wird ab sofort Claus übernehmen.“

„Claus mit C oder mit K?“

„Egal“, raunzte sein Chef. „Du gehst in die Poststelle.“

„Aber Chef, ich war immer gut in der Zustellung. Minimale Beschwerden, moderater Alkoholkonsum und höchstens zwei Luftschlitten-Unfälle pro Jahr.“

„Ab morgen Poststelle. Unleserliche Wünsche dechiffrieren und so weiter. Im Januar brauchen wir einen, der sich mit diesem WhatsDings auskennt.“

„Whats – was? Ich kann nicht mal mit nem Fax umgehen!“

„Ich kann dich auch ins Lager stecken. Zum Säckepacken!“

„Ist ja gut, Chef. Dann kannst du das hier direkt Claus überhelfen. Muss ich mich wenigstens nicht damit rumplagen.“ Erik knallte dem Chef den Wunschzettel auf den Schreibtisch. Der las ihn gelangweilt durch. Dann begann er herzhaft zu lachen. Es dauerte eine Weile, ehe er sich beruhigt hatte. Erik schwante Schlimmes.

Wenig später tobte er in seinem klitzekleinen Büro. „ICH, verstehst du? Streber-Klaus kriegt alle meine Aufträge, aber ICH soll diesen verfluchten Blödsinn ausführen!“

Rolf kroch tief in seinen Sessel. „Beruhige dich. Gibt Schlimmeres als die Poststelle.“

„Krakeleien von Dreijährigen in menschliche Laute zu übersetzen? Pah! Am Ersten Feiertag knall ich ihm morgens meine Kündigung auf den Tisch! Ab sofort! Ich schul auf Osterhase um. Oder auf ‚Süßes oder Saures‘! Chillig zu Hause sitzen, während die Kinder zu einem kommen. Ohne mit nem klapprigen Luftschlitten rumzugurken. Wo sind die Zeiten hin, als der Weihnachtsmann einfach nur Freude brachte?“

„Ich versteh dich nicht. Was steht denn auf dem Zettel?“

Erik warf den zerknüllten Wunschzettel zu Rolf. Als der ihn durchgelesen hatte, schaute er ungläubig hoch. „Achtmal Pizza Hawaii mit extra Käse und allem was dazugehört?“ Rolf runzelte die Stirn. „Wenigstens leicht zu beschaffen. Liefer- äh, Bescherungsadresse?“ Er drehte den Zettel um. „Leon Müller, Wilhelmsruher Damm 126a.“

„Märkisches Viertel“, brummte Erik.

„Aber wer weiß“, meinte Rolf. „wenn der Job gut läuft, kannst du ja deine Stelle vielleicht behalten?“

„Wer sagt denn, dass ich die noch will?“

Rolf seufzte. „Ich kümmere mich um den Schlitten.“

Erik griff nach der Kaffeetasse.

Leon

Am Heiligabend streikte der Motor des Luftschlittens nur ein Mal. Dank serienmäßig eingebautem Weihnachtswunder stürzte das Gefährt nicht ab. Am Wilhemsruher Damm war der Fahrstuhl defekt. Im achten Stock schnappte Erik nach Luft, während Rolf seine Kippe auf der Treppe austrat.

„Klingeln oder Klopfen?“, fragte Rolf. Erik hämmerte wortlos gegen die Tür. „SEK-Einsatz oder was“, maulte sein Gehilfe.

Die Tür wurde von einem schlaksigen Jungen geöffnet, der vielleicht dreizehn Jahre alt war. Auf der Stirn wucherten Pubertätspickel. Wenn der erwachsen ist, dachte Erik, ist er mindestens Einsneunzig.

„Ho ho ho“, brummte er, obwohl das bei dieser Klientel sicher nicht mehr zog. „Wir bringen deine … äh … Geschenke.“

Leon nickte mürrisch. Er trat zur Seite und winkte sie freudlos herein. Die Wohnung machte keinerlei weihnachtlichen Eindruck. Das Wohnzimmer war aufgeräumt, aber die Möbel wurden deutlich über dem Verfallsdatum genutzt. Nirgends war eine Tanne zu entdecken. Fragend sahen sich Erik und Rolf um. Offenbar war der Junge ganz allein.

Erik brach das Schweigen. „Wo sind denn deine Eltern?“

„Mutter ist auf ner Demo. Was mit Impfen und Masken und so.“

„Und dein Vater?“

„Weiß nicht. Zur Kirche.“

„Ah.“ Erik wandte sich an Rolf. „Dann bist wohl du zuständig.“

Leon musterte den Elfjunkie von oben bis unten, der die Pizzakartons festhielt. „Dass der da der Weihnachtsmann ist, erkenn ich. Aber wen stellst du dar?“

Rolf zog die Nase hoch. „Ich bin das Christkind, Schrägstrich, Weihnachtswichtel, Schrägstrich, Snegurotschka, Schrägstrich, Weihnachtsmanngehilfe, bitte je nach Konfession und Herkunft ankreuzen. Weil dein Vater in der Kirche ist, bin ich jetzt wohl das Christkind.“

„Nicht in der Kirche. Der ist ‚Zur Kirche‘, Stammkneipe.“

Rolf atmete tief durch und überreichte ihm die Kartons. „Auf das Gedicht etcetera verzichten wir wohl.“

Leon nahm sie entgegen, betrachtete sie misstrauisch und schaute die Gäste an. Als diese nichts sagten, blickte er suchend hinter sie, als erwarte er noch jemanden.

„Willst du nicht auspacken?“, fragte Rolf.

„Wird schon in Ordnung sein“, antwortete Leon. „Wo ist denn der Rest?“

Erik und Rolf wechselten ratlose Blicke.

„Also was eben dazugehört?“

„Schinken, Ananas, Käse und Extra Käse“, erklärte Rolf. „Alles wie gewünscht.“ Erik sah ihm an, dass er auch langsam die Geduld verlor. Da brachte man dem Rotzlöffel acht wunderbare Pizza Hawaii, dank Weihnachtsfeature sogar noch ofenwarm, und der war unzufrieden?

Rolf zeigte wortlos auf die Kartons. Er lächelte dabei freundlich und gruselig.

Leon sah weiterhin unglücklich aus. „Aber wer soll denn die essen?“

Erik dämmerte, worauf das Ganze hinauslief. Sein Gehilfe war offenbar noch nicht so weit. „Wie meinst du das?“

„Na ja“, erwiderte Leon leise. „Zu jeder Pizza gehört einer, der sie isst.“

Rolfs Hand wanderte unter die Knopfleiste seines Kostümhemdes. Erik schlug ihm unauffällig auf die Finger.

„Du meinst“, sagte Erik, „du hast dir die Pizzen gewünscht, um sie mit jemandem zusammen zu essen?“

„Das gilt nicht!“, rief Rolf, der nun einen Flachmann aus dem Kostüm zog.

„Jeder mag doch Pizza“, sagte Leon.

Während Rolf hastig einen Schluck nahm, wackelte Erik mit dem Kopf. Er holte Leons Zettel hervor und studierte ihn. „Er hat Recht. Achtmal Pizza Hawaii mit allem, was dazugehört.“ Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich wahrhaft fast wie ein Weihnachtsmann und nicht wie ein Dienstbote im Unterbereich 47c.

„Ist nicht dein Ernst“, sagte Rolf.

Angela und die Anderen

Wenig später saßen sie zu dritt im Schlitten. Am Steuer saß Erik, neben ihm Rolf. Leon hielt hinten auf der Ladefläche sein Gesicht in den eisigen Fahrtwind und breitete die Arme aus. Erik drehte sich kurz um und lächelte in sich hinein.

„Verrätst du mir jetzt, wohin es geht?“, fragte Rolf, dessen Joint einfach nicht anbrennen wollte.

„Müllerstraße“, rief Erik, während er haarscharf einem altmodischen Rentierschlitten auswich. „He – dein Rudolf braucht ne neue rote Nase! Ho ho ho!“

Rolfs Gesicht verfärbte sich grünlich. „Müllerstraße? Weil der Junge Müller heißt?“ Rolf hielt sich fest, als das Gefährt bedenklich durch Luftlöcher schlitterte. „Müller … du meinst … du meinst den Frosch?“

Jetzt schaute Erik fragend. Rolf meinte: „Das ist ein verzauberter Frosch. Guck ihn dir an.- Außerdem wohnt er in Tempelhof!“

„Seine Oma lebt in der Müllerstraße.“

„Woher weißt du das?“

„Er ist eben der Weihnachtsmann“, rief Leon von hinten.

Michael Müllers Oma wohnte im vierten Stock in der Müllerstraße 21 im Wedding. Erik klingelte diesmal. Es dauerte einen Moment, ehe sich die Tür öffnete. Rolf, Erik und Leon schauten in eine menschenleere Diele. Ihr Blick wanderte nach unten. Hinter der Schwelle hockte ein grüner Frosch im Anzug. „Ich hab‘s doch gesagt“, flüsterte Rolf.

„Was haben Sie gesagt“, ertönte die bekannte Stimme einer nicht mehr ganz jungen Frau, die hinter der Tür hervortrat. Ihre Finger formten vor dem Bauch eine ebenfalls wohlbekannte geometrische Figur.

„Frau Merkel?“, fragte Erik.

„Sie sind Michael Müllers Oma?“, ergänzte Rolf.

„Von dem Frosch?“, setzte Leon hinzu.

„Seid nicht albern, Jungs“, sagte Angela Merkel. „Michael sitzt drinnen, bei den anderen. Kommt rein.“

„Und der Frosch?“

„Gehöhöhört mir“, rief eine Bass-Stimme aus dem Wohnzimmer.

Auf dem Weg durch den Flur erklärte Frau Merkel: „Michael hat ja gerade keine Verpflichtungen. Und weil ich auch nichts vorhatte, meinte seine Oma, dass er mich und Joachim mitbringen solle.“

Im festlich geschmückten Raum saßen Michael Müller, seine Oma und Joachim Sauer auf der Couch. Aus einer Alexa erklang „Last Christmas“.

Am Ende der Festtafel thronte ein veritabler Weihnachtsmann in einem großen Ohrensessel. Michael Müller erklärte feierlich: „Darf ich vorstellen? Eins-A.“

„Setzt euch“, sagte dieser. „Angela, hohohol mal bitte zwei Hohohocker aus der Küche.“

„Dich gibt es wirklich?“, fragte Erik. Er ließ sich auf den nächstgelegenen Stuhl fallen.

„Ich zumindest glaube an mich“, antwortete Eins-A. „Was führt euch hierher?“

Rolf, Erik und Leon erzählten. Das dauerte eine Weile, da Erik und Rolf gern ausschweifend erzählten und Leon ständig unterbrach. Eins-A stopfte sich Weihnachtsplätzchen in den Mund. Am Ende fragte er: „Und wohohoho sind die Pizzen? Ich brauch jetzt was Herzhaftes.“

Michael Müller wies stumm auf die Würstchen mit Kartoffelsalat, die sich auf dem Tisch türmten. Eins-A ignorierte ihn.

Leon legte die Kartons vorsichtig auf den Tisch. Michael Müller stibitzte sich ein Würstchen. Die anderen stürzten sich auf die vorgeschnittenen Pizzen.

Als sie alle vollgefuttert zurücksanken, sagte Leon: „Das ist das schönste Weihnachten, dass ich je hatte.“

„Sohoho sohoholl es auch sein“, sagte Eins-A und griff nach einem Zimtstern. „Bedank dich bei ihm“, sagte er, auf Erik weisend. „Wohohohol mein bester Mann.“

Erik schaute auf. Offenbar hatte er alles richtig gemacht. Und es fühlte sich gut an, einfach mal wieder Freude verbreitet zu haben. Er strahlte. Gab es etwas Schöneres als Weihnachtsmann zu sein?

Eins-A fuhr fort: „Ich werde nicht zulassen, dass du in die Poststelle kommst. Und du, mein Lieber, gehst mit ihm.“ Er zeigte auf Rolf, „In meine neue Spezialtruppe. Die, für die besonders schweren Fälle.“

„Ich weiß nicht“, protestierte Rolf unsicher, „ob ich da der Richtige bin.“

„Ohhoho doch“, erwiderte Eins-A, „Du musst mir nur eins versprechen.“

Rolf hielt den Kopf schräg.

Eins-A erklärte: „Keine Drogen mehr. Kein Alkohohohol. Keine Zigaretten und … na gut, Süßigkeiten sind okay.“

Vorsichtig schaute Rolf von unten auf. „Und was ist mit Cannabis?“

„Cannabis ist erlaubt“, sagte Michael Müller. Seine Oma guckte streng.

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