Über die Schädeldecke

Boomtown – Die Montagskolumne aus Berlin
Nummer 01/2000 vom 10.01.2000

Ende der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts gab es eine Band namens „Boomtown Rats“, deren Titel „I don’t linke Mondays“ auch jetzt noch häufig an diesem Wochentag zu hören ist. Er handelt von einer Schülerin in San Diego, die am 29.1.1979 ihre Klassenkameraden erschoss und dies einzig mit jenem Satz begründete. Um anderen Menschen ein ähnliches Schicksal zu ersparen, erscheint diese Kolumne jeden Montag in der Hoffnung auf zahlreiche Leser.

Nachdenken über die und unter der Schädeldecke

Als ich neulich nichtsahnend über den Alexanderplatz spazierte, kam mir ein Paar um die Vierzig entgegen. Sie waren in ein scheinbar kompliziertes Gespräch verwickelt. Kompliziert deshalb, weil der einzige Fetzen, den ich im Vorübergehen mitbekam, lautete: „Das geht nicht. Da ist die Schädeldecke dazwischen.“ Es war sie, die diesen Zweifel anmeldete.
Seitdem grüble ich, was wohl alles nicht gehen könnte, „weil die Schädeldecke dazwischen ist“. Zunächst: Wozwischen befindet sich denn eigentlich die Schädeldecke? Soweit ich weiß, zwischen Haar und Hirn. Also muss der Mann vorgeschlagen haben, irgendetwas in die eine oder andere Richtung zu befördern. Eine Kopfschmerztablette direkt dahin „wo der Schmerz wirkt“? Eine Haarschneidemaschine von innen nach außen? Licht in das Dunkel?
Im neuesten „James Bond“ agiert ein Bösewicht, dem eine Kugel durchs Hirn wandert. Funktioniert das? Der Nachfolge-Roman von „Das Schweigen der Lämmer“ endet damit, dass Hannibal „the Cannibal“ Lecter das Hirn eines noch lebenden Widersachers festlich verspeist. Ist das möglich bei notgedrungen geöffnetem Schädel? Vielleicht war er ja doch tot und redete trotzdem. Bruce Willis läuft in seinem neuesten Film schließlich auch herum, obwohl er schon erschossen wurde. Allerdings erfährt man dies erst nach über 90 Minuten. (Ups…)
Möglicherweise sinnierten die beiden auch darüber, warum es nicht möglich ist, die Gedanken anderer zu lesen. Die Schädeldecke könnte ein Hinderungsgrund sein. Ein uralter Traum der Menschheit ist es ja. Hat eigentlich schon mal jemand darüber nachgedacht, dass dieser Wunsch paradox ist?
Angenommen, es gab einmal zwei Neandertaler, nennen wir sie der Einfachheit halber A und U (damals gab es noch nicht so viele Konsonanten). Wenn A übermitteln wollte, wo sich z.B. das nächstgrößere jagdbare Mammut befindet, hätte er nicht einmal den Mund aufmachen müssen. Das bedeutet aber, dass sich eine strukturierte Sprache nicht entwickelt hätte, eine wesentliche Voraussetzung für Geschriebenes. Wenn U es, aus welchem Grunde auch immer, nun wünschenswert gefunden hätte, dieses Mammut gemeinsam mit A zu erlegen, aber anschließend den Kompagnon mit ins Jenseits zu schicken, wäre er schlecht dazu in der Lage gewesen, weil A sehr wahrscheinlich schneller gewesen wäre. Das heißt, beide hätten wichtige Strategien der Täuschung und ihrer Vermeidung nicht entwickelt, die letztendlich auf das Abschließen von Verträgen hingeführt haben. Es gäbe keinen Handel, keine Mathematik, keine Wissenschaft. Wenn man es also genau betrachtet, könnten wir auch dann keine Gedanken lesen, wenn wir eigentlich dazu in der Lage wären. Einfach, weil es keine nennenswerten Gedanken gäbe, die zu lesen sich lohnte.
Seien wir froh, dass wir sie haben, unsere Schädeldecke. Wie unangenehm wäre es sonst, wenn wir uns mit der Hand vor die Stirn schlagen, erst recht der „Schlag auf den Hinterkopf“.
Und wenn ich mich auf den Kopf stelle, ich habe keine Ahnung, worüber die beiden auf dem Alex sich unterhielten. Es war eine kühle Nacht, es regnete, und hätte ich eine Mütze gehabt, wäre meine Schädeldecke der perfekte Platz für sie gewesen. So aber zog ich mir eine Erkältung zu, die sich in Schnupfen und – Kopfschmerz ausdrückte.
Eine schöne Woche wünscht Leovinus
( 2000 )

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