Big Me

Cogito 03/2000

Vom 5.März 2000

lat.: co- + agito »eine Sache im Geist zusammenfassen«

Big Me

Hiermit starte ich einen einzigartigen Selbstversuch. Die kommenden einhundert Minuten verbringe ich völlig abgeschnitten von der Außenwelt. Um die Bedingungen zu verschärfen, werde ich beobachten, wie ich esse, trinke, schlafe, den Job wechsle und mich selbst liebe. Wenn alles gut läuft, gebe ich mir am Ende 2,50 DM, da muss ich dann nur noch 2,50 drauflegen und kann mir eine Schachtel Zigaretten kaufen. Riesenansporn das!
Bespreche die Sache mit Helfgott, dem Kanarienvogel und beginne Spiegel zu sammeln. Im Badezimmer hängt ein großer Wandspiegel. Den Rasierspiegel nehme ich mit ins Wohnzimmer und stelle ihn neben den Fernseher. Der Flur ist ebenfalls präpariert, weil dort Omas Erbstück steht, zwei mal ein Meter Spiegelfläche dürften genügen. Im Schlafzimmer öffne ich den Kleiderschrank, der innen verspiegelt ist. In der Küche müssen die Glastüren der Hängeschränke genügen. Nun krame ich noch den Taschenspiegel meiner Ex aus dem Sekretär und stelle ihn auf den Esstisch im Wohnzimmer. Als Clou positioniere ich meine Videokamera auf dem Bücherregal und versuche, sie sofort zu vergessen. Helfgott hat sowieso einen Spiegel im Bauer. Ich starte die Kamera und stoppe die Zeit.
Um mich bei mir selbst beliebt zu machen, beginne ich mit Abwaschen. Ich kann ja sonst nichts, aber wenns ums Abwaschen geht, bin ich der Größte! Schlage vor, abzuwaschen, wenn ich dafür nicht das Klo putzen muss. Bin einverstanden und mir sofort sympathisch. Klappe auf, Geschirr rein, Tabs dazu, Klappe zu, Knopfdruck. Wahnsinn. Schätze, ich werde die hundert Minuten gut mit mir auskommen.
Nach dieser Anstrengung muss ich mich hinsetzen und Zeitung lesen – Mist, keine Zeitung im Haus, nehme eine Packung Tempos und lese darauf. Ist spannend, aber zu kurz. Immer noch 90 Minuten, ich glaube, jetzt mache ich langsam schlapp. Die alten Flaschen müssten weggebracht werden. Damit hätte ich bestimmt fünfzehn Minuten gewonnen. Nehme den Taschenspiegel und beeile mich, während ich im Hausflur bin, damit mir Schulze aus dem Parterre nicht übern Weg läuft.
Super, man kommt jetzt auch leichter in die Küche.
Ging trotzdem zu schnell, noch 73 Minuten übrig.
Jetzt könnte ein bisschen Fitness nicht schaden. Hab aber keine Hanteln im Haus. Renne schnell noch mal zum Flaschencontainer und hole zwei große Sektflaschen raus. Beim Zurücklaufen schließe ich die Augen, da ich Schulze kommen höre. Ich remple ihn voll an und sprinte die Treppen wieder hoch. Puh, das war knapp.
Ziehe mir ein enges T-Shirt über und gehe ins Bad. Dort fülle ich die Flaschen mit Wasser und mache vor den Spiegel Fitnessübungen. Versuche glücklich und ganz in mich versunken auszusehen. Ich glaube, es gelingt mir. Noch eine Stunde.
Was zu Essen machen wäre gut. Wo ich doch jetzt an das saubere Geschirr ran komme. Schade, dass nichts im Kühlschrank ist. Oder kann man aus Tiefkühlspinat, einer Büchse Ananas und zwei Möhren was Asiatisches kochen? Überlege, wieviel Essen man braucht, um hundert Minuten durchzustehen. Habe gehört, dass Milch wichtig ist. Weil man pro Tag zweieinhalb Liter trinken soll, schreibe großzügig 0,17 Liter auf einen Zettel, wickele ihn um ein Markstück und werfe dieses aus dem Fenster. Beobachte, was passiert.
Erst schnüffelt ein Bernhardiner daran. Dann kommt eine Krähe geflogen und pickt an dem Papier herum, sodass das Geld herausfällt. Ein Junge trabt vorüber, hebt die Mark auf und latscht weiter. So war das aber nicht gedacht. Bekomme wieder Selbstzweifel.
Will schauen, wie lange mein Experiment noch dauert. Um Zeit zu schinden gehe ich erst ins Bad, und dann ins Wohnzimmer. Klasse, noch 49 Minuten. So, nun aber im Kochbuch was Asiatisches suchen … Finde nichts. Ob ich am Ende verhungert sein werde? Überlege, ob ich Helfgott essen muss. Und wie man ihn zubereitet. Finde auch darüber nichts im Kochbuch. Noch 47 Minuten. Will stark bleiben.
Was war das? Das Telefon hat geklingelt! Hatte wohl vergessen, den Stecker zu ziehen. Werde ich jetzt disqualifiziert? Gehe nicht ran. Dafür der Anrufbeantworter, der alte Verräter. Na, den werf ich auf jeden Fall in der nächsten Runde raus!
»Hi, Leo, hier ist Zippo. Ich denke, du wolltest dir einen gemütlichen Abend machen. Jaja, auf nichts kann man sich verlassen!« – Von wegen »gemütlicher Abend«. So eine Herausforderung wünscht man seinem ärgsten Feind nicht! Und dass man sich auf mich verlassen kann, werde ich schon beweisen! Der wird staunen, wenn ich ihn in den nächsten 43 Minuten nicht anrufe!
Will den Fernseher einschalten, zum Glück fällt mir rechtzeitig ein, dass ich nicht fernsehen darf. Also Radio … geht ja auch nicht. Fange selber an zu singen. Bin aber unzufrieden, weil ich die hohen Töne nicht halten kann. Außerdem ist singen doof, kaum bist du in der Hitparade, fliegst du wieder raus. Unter der Brücke möchte ich nicht enden. Wenn ich allerdings die 2,50 gewänne, wäre das egal.
Noch eine gute halbe Stunde. Beschließe, unter die Dusche zu gehen. War zwar erst vor zwei Stunden in der Wanne, aber nackte Haut kommt immer gut an. Bringt mich glatt fünfzehn Minuten weiter. Ziehe mir den Bademantel an und sofort wieder aus. Gehe noch mal unter die Dusche. Das gibt Punkte. Da kann der Anrufbeantworter einpacken!
Fünf Minuten noch. Ob ich die auf dem Klo verbringe? Lieber nicht, kann mich dort nicht im Spiegel sehen. In den letzten Minuten rausgeworfen zu werden, wäre bitter.
Gehe in die Küche und setze einfach Wasser auf. Das macht einen fleißigen Eindruck. Grüble, was ich mit dem heißen Wasser machen könnte und entscheide mich für Kaffee. Mann, bin ich heute kreativ! Schade, die Sahne ist alle. Gehe zur Nachbarin und klingle. Doch ehe sie aufmacht, fällt mir ein, dass ich nicht mit ihr reden darf und springe in meine Wohnung zurück. Sehe durch das verglaste Loch in der Altbautür, wie sie öffnet. Während ich mich frage, ob ich das darf, klingelt sie. Halte die Luft an. Sie klopft. Rühre mich nicht von der Stelle, muss aber langsam wirklich dringend pinkeln. Sie versucht, von der anderen Seite durch den Spion zu linsen. Ich weiß nicht genau, ob sie mich sehen kann. Versuche, meine Pupille ganz starr geradeaus schauen zu lassen. Sie dreht sich um und geht in ihre Wohnung zurück. Auf der Schwelle sagt sie in den leeren Hausflur: »Schade. Hätte gern mit dir »Big Brother« geschaut. Ist nämlich total spannend.«
Schaue auf die Uhr und zähle die Sekunden. Geschafft! Gehe schnell aufs Klo und dann mit dem Kaffee zur Nachbarin. Habe dort irgendwie ein Deja-vue-Erlebnis. Später frage ich mich, wieso ihr Schlafzimmer voller Spiegel hängt.

Erleichtert: Leovinus.

(erschienen am 5.März 2000 auf der Startseite der Leselupe, sowie in der Anthologie „Fantasie mit Schneegestöber“ des Verlags Ferber & Partner)

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