Als die Nachrichten den bevorstehenden Weltuntergang meldeten, begab sich Maria Schulz in den nächsten Supermarkt und packte 25 Flaschen Haarshampoo ein. Sie tat dies, weil es alle ihre Nachbarinnen auch taten. Jede von ihnen stellte die Gefäße ordentlich nebeneinander in den Einkaufswagen und ging damit zur Kasse.
Alle Männer gingen in den Baumarkt und kauften eine Harke.
Maria Schulz musste nicht lange in der Schlange warten. Alle Kassen hatten geöffnet und die Angestellten kassierten freundlich und routiniert eine Kundin nach der anderen ab. Als sie selbst an der Reihe war, schaute die Kassiererin, deren Namensschild mit „Wolfgang Petri“ beschriftet war, sie an und sagte: „Sie nicht.“
„Ich nicht?“, fragte Maria Schulz etwas ärgerlich.
„Nein“, antwortete Wolfgang Petri. „Sie nicht.“
Maria schaute sich um und sah, wie an allen anderen Kassen alle anderen Frauen abkassiert wurden, bezahlten, einen schönen Abend gewünscht bekamen, ihre Waren einpackten, den Wagen zurückschoben, den Chip aus dem Schloss nahmen, sich die Jacke zuknöpften und den Laden verließen.
„Warum ich nicht?“, fragte sie.
„Weil wir keine 25 Flaschen Haarshampoo verkaufen dürfen“, erklärte die Kassiererin.
Maria schaute sich noch einmal die Szenerie um sie herum an. Hinter ihr in der Schlange wuchs die Ungeduld.
„Aber alle kaufen hier 25 Flaschen Haarshampoo!“ protestierte sie.
Wolfgang Petri schüttelte den Kopf. „Niemand tut das. Es ist nicht gestattet. Bitte räumen sie die Ware zurück in das Regal.“
Maria Schulz war noch nie jemand gewesen, der Willkür klaglos ertragen hätte. Schon als Dreijährige hatte sie bei Mutter immer vier Kugeln Eis mit Sahne durchgesetzt, einfach weil der fünf Jahre ältere Bruder sie auch bekam.
„Ich gehe nicht“, sagte sie zur Kassiererin. „Es gibt keinen Grund, mich nicht ebenso abzukassieren wie all die anderen vor und neben mir.“
Wolfgang Petri schaute sie mit dunklen Augen an. „Es gibt auch keinen Grund, 25 Flaschen Haarshampoo zu kaufen.“
„Das kann Ihnen völlig egal sein. Ich bin hier Kundin, ich bezahle, also habe ich auch das Recht, zu kaufen, was ich möchte.“
„Wir geben Waren nur in handelsüblichen Mengen ab. Bitte leeren Sie Ihren Einkaufskorb, sonst muss ich den Chef rufen.“
Die Schlange hinter Maria wurde immer unruhiger. Hinten rief eine Frau mit gelbem Kopftuch: „Nun machen Sie schon endlich, was man Ihnen sagt. Ich will auch endlich bezahlen!“
Maria drehte sich um: „So? Was haben Sie denn in Ihrem Korb?“ – „Nur drei Pakete Knäckebrot!“ antwortete die Frau, obwohl jeder sehen konnte, dass auch sie 25 Flaschen Haarshampoo eingepackt hatte.
„Sehen Sie“, meinte Wolfgang Petri.
Maria begann zu zittern. „Aber sie lügt! Das alles hier ist eine große Lüge!“
„Was ist eine Lüge?“, fragte die Kassiererin.
„Alles – das Knäckebrot und dass Sie mir kein Haarshampoo verkaufen dürfen, und Wolfgang Petri heißen Sie auch nicht.“
„Wer hat Ihnen denn den Wolfgang-Petri-Unsinn erzählt?“
„Das steht auf Ihrem Namensschild!“
Die Kassiererin nahm das Schild ab, las es durch und lachte. „Ach so, das meinen Sie. Aber wenn es dort steht, dann stimmt es auch.“
„Sie heißen wirklich Wolfgang Petri?“ – Die Kassiererin nickte lächelnd. Dann wurde ihr Gesichtsausdruck ernst. „Die Flaschen sind viel zu teuer für Sie. Würden Sie sie nun bitte forträumen? Hinter Ihnen warten bereits mehrere hundert Kundinnnen.“
Als Maria sich erneut über die Schulter schaute, sah sie, dass die Schlange hinter ihr tatsächlich unermesslich lang geworden war. Sie zog sich an den Regalen vorbei, wand sich um die Aufsteller mit den Sonderangeboten, ringelte um einen Reinigungswagen und zerrann schließlich in schier unendlicher Ferne. Wie hypnotisiert folgten Marias Augen den Windungen und Schlaufen und beinahe hätte sie das Bewusstsein verloren, wenn nicht die Stimme der ungeduldigen Frau mit dem gelben Kopftuch sie aus ihren verlorenen Gedanken gehoben hätte. „Hören Sie auf, in die Gegend zu starren! Sie sollen gehen!“
Maria wandte sich wieder der Kassiererin zu. „Zu teuer? Wieviel muss ich denn bezahlen für das Haarshampoo?“
Die Kassiererin überlegte und sagte: „Fünfundzwanzigtausend Euro.“
„Wie bitte?“ – „Sie haben mich schon verstanden.“
„Aber Sie haben nicht einmal den Scanner an die Flaschen gehalten! Außerdem kostet eine Flasche niemals tausend Euro!“
„Für die Anderen nicht. Aber für Sie“, beharrte Wolfgang Petri.
„Sie geben also zu, dass die Anderen auch Haarshampoo kaufen!“ triumphierte Maria.
Die Kassiererin schüttelte den Kopf. „Ich gebe gar nichts zu. Bezahlen Sie nun, oder gehen Sie.“
Jemand tippte Maria auf die Schulter. Es war Ihr Mann. Er hatte eine Harke in der Hand. „Kommst du, Schatz?“
„Natürlich.“
Sagte die Kassiererin. Sie stand auf und kletterte über die Absperrung. Sie zog den Kittel aus und drückte ihn Maria in die Hand.
Sie wünschte einen schönen Abend, packte Marias Flaschen ein, schob den Wagen zurück, nahm den Chip aus dem Schloss, knöpfte sich die Jacke zu und verließ gemeinsam mit Marias Mann den Laden.
Die Frau mit dem gelben Kopftuch schrie nun mit keifender Stimme: „He, was stehen Sie da herum? Wollen Sie uns nicht endlich abkassieren?“
Maria war allein. Maria zog den Kittel an, setzte sich an die Kasse und begann.
Dann ging die Welt unter. Die Männer hatten Harken und die Frauen schöne Haare. Alle, außer Maria Schulz.
(2010)